Leselampe

2021 | KW 37

© Sophie Salzer

Buchempfehlung der Woche

von Ulrich Peltzer

Ulrich Peltzer,  geboren 1956 in Krefeld, studierte Philosophie und Psychologie in Berlin, wo er seit 1975 lebt. Er veröffentlichte die Romane Die Sünden der Faulheit (1987), Stefan Martinez (1995), Alle oder keiner (1999), Bryant Park (2002) und Teil der Lösung (2007), Das bessere Leben (2015) sowie die Frankfurter Poetikvorlesungen Angefangen wird mittendrin (2011). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Preis der SWR-Bestenliste, dem Berliner Literaturpreis und dem Heinrich-Böll-Preis. Seit 2010 ist Ulrich Peltzer gewähltes Mitgleid der Akademie der Künste (Berlin) und seit 2015 Direktor der Sektion Literatur, deren stellvertretender Leiter er bereits 2012 wurde. 
In diesem Frühjahr ist sein neuer Roman Das bist du im S. Fischer Verlag erschienen.

Louis-Ferdinand Céline
Tod auf Raten
(Roman); Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021

Louis-Ferdinand Céline ist jemand, dem man nicht unbedingt begegnet sein möchte. Wie kann ein Autor, der die französische Literatur revolutioniert hat, nur so etwas geschrieben haben? Man weiß, wovon ich rede, es ist unerträglich. Unverzeihlich, beispiellose antisemitische Pamphlete. Nur, und das unterscheidet ihn von mediokren Scheißeschreibern wie Drieu la Rochelle, findet sich davon nichts in seinen Romanen, keine Spur, nicht die geringste Verbindung. Der neben Im Westen nichts Neues ergreifendste Anti-Kriegs-Roman stammt von Céline, ein im Deutschen Kanonenfutter (Casse-pipe betitelter Amoklauf gegen den Irrsinn der Blutbäder vor Verdun und an der Somme, der genau benennt, wer die Opfer und wer die Täter sind, die Herrschenden und die zukünftigen Kadaver. Wen Reise ans Ende der Nacht nicht umwirft, liegt wahrscheinlich schon tot auf der Polsterware, eine desorientierende Mitleidlosigkeit, die einer bösartigen, mitleidlosen Welt geschuldet ist, die der Armenarzt Céline aus eigener Anschauung besser kannte als der Rest seiner Kollegen.
Und dann Tod auf Raten, das gerade in einer Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel erschienen ist, wobei Tod auf Raten mir beim Lesen jetzt auch plausibler erscheint als die ursprüngliche, wortwörtliche Eindeutschung des Originals als Tod auf Kredit. Denn Kredit besitzt der junge Erzähler nirgendwo, einen Vorschuss, den er abarbeiten könnte, um dann zu sich selbst zu finden, oder, deterministisch gewendet, zu dem zu werden, der er ist. Ob es ihm gelingen wird, sich aus der kleinbürgerlichen Hölle, die Vater und Mutter bewusstlos (natürlich bewusstlos) repräsentieren, doch noch herauszuwinden, baut eine Spannung auf, die den ganzen Roman über mehr als 700 Seiten hinweg trägt. Mehr als bewunderungswürdig, wie Céline zugleich immer die Sichtweise seines Protagonisten einnimmt, ohne das Elend der anderen, der Eltern, der Nachbarn, der Brotgeber zu unterschlagen, wenn auch ohne jede Sentimentalität. Pack, dem aber anderes Pack im Nacken sitzt, Killer, die den Ruin von allem und jeden in Kauf nehmen, solange sie selbst so eben noch verschont bleiben (manchmal leider eine ziemliche Fehleinschätzung). Hier, in diesem großen Sterben, waltet nicht ein Autor nach Plan, sondern eine Wirklichkeit, die keine Gnade kennt, kein Einsehen, kein Argument. Célines Sprachmacht ist überragend, mitreißend, nie rhetorisch, immer umgangssprachlich, die Umgangssprache an jenen Rand treibend, jenseits dessen nur noch Schweigen oder ein unartikulierter, verzweifelter Schrei möglich erscheint. Das Meisterwerk eines Autors (noch ein Meisterwerk), der im Leben ein Monstrum war, ein, man sehe mir die Wortwahl nach, ein Schwein, ein Genie, einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

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