Leselampe

2021 | KW 1

© Ayse Yavas

Buchempfehlung der Woche

von Hildegard E. Keller

Hildegard E. Keller, Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin, veröffentlichte Theaterstücke, Hörspiele und Filme, die Frauen und ihre Werke ins Leben zurückholen. Von 2009 bis 2019 war sie Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und von 2012 bis 2019 Mitglied im Literaturclub des Schweizer Fernsehens. 2019 gründete Hildegard E. Keller zusammen mit ihrem Mann Christof Burkard die Edition Maulhelden. Dort wird im Frühjahr diesen Jahres Kellers zweibändige Biografie über die argentinische Schriftstellerin Alfonsina Storni erscheinen. Keller übersetzte das Prosawerk Stornis erstmals ins Deutsche und macht die Autorin im deutschsprachigen Raum bekannt. Ebenfalls im Frühjahr 2021 wird Kellers erster Roman, Was wir scheinen, im Eichborn Verlag erscheinen. Der Roman begleitet Hannah Ahrendt in ihrem letzten Sommer auf eine Urlaubsreise in die Schweiz und lässt sie auf ihr bewegtes Leben zurückblicken. Hildegard E. Keller lebt in Zürich.

Emmanuel Carrère
Julies Leben
Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2020.

Das Jahr, das wir in wenigen Stunden zu den Schakalen jagen, hat meinen Bücherstapeln arg zugesetzt. Der mit den noch ungelesenen Büchern ist markant kleiner geworden. Von dem anderen greife ich mir das Bändchen mit dem Guckloch vorne drauf. Man kennt und schätzt die Matthes & Seitz-Reihe mit dem persönlichen Blick. Unscheinbar, in graue Pappe gebunden, mit all den Schwarz-Weiß-Fotos von Darcy Padilla umfasst es gerade mal 59 Seiten. Einmal mehr bewährt sich Pauline Altmanns Fingerspitzengefühl, denn jedes Mehr an Ausstattung wäre hier fehl am Platz.

Die Geschichte, die erzählt wird, ist bekannt: Eine Fotografin, die aus einer mexikanischen Immigrantenfamilie stammende Darcy Padilla, dokumentiert Frauen, Paare, Familien. An Wochenenden sind es fotowürdige Hochzeitspaare unter kalifornischem Himmel, und sonst, wann immer Padilla es sich leisten kann, lichtet sie Menschen in unwürdigen Lebensumständen ab.

Die nachhaltigste ihrer Zufallsbekanntschaften heißt Julie und sitzt breitbeinig in einer Hotellobby, mit ihrem Neugeborenen auf dem Arm. Julie Project wächst sich zu einer vielbeachteten Langzeitstudie der living poor in Amerika aus, denn Padilla begleitet die damals achtzehnjährige Julie durch ihre Sucht- und Aidserkrankung sowie ihre sechs Mutterschaften bis ans Sterbebett.

Darcys Fotoarchiv und ihr Erfahrungsbericht von achtzehn Jahren Leben (und Sterben) von Julie bildeten die Grundlage für Emmanuel Carrères Reportage aus dem Jahr 2011 sowie die Fotodokumentation, die online ist (die Hauptsache hinter Paywall). Padilla navigierte durch diese glanzlose Welt, um exklusive Zeugin für ein Leben zu werden, das ohne ihr Projekt längst vergessen wäre. Zeugnis davon abzulegen, um anderen Menschen Einfühlung zu ermöglichen und die seit Wolfram von Eschenbach und Hannah Arendt wohl wichtigste Frage zu stellen: Wie fühlt es sich an in der Haut der Anderen?

Auch ein «missglücktes Leben» soll erinnert werden. Dass diese Reportage trotz aller Trostlosigkeit lesbar, ja, ein Leseerlebnis wird, ist ein kleines Wunder. Keine Frage: Der Autor hat sein Können eingesetzt, eine gradlinige Erzählung, ohne Pathos oder Voyeurismus, eine der Sache angemessene Sprache. Aber darüber kann ich nichts sagen, denn ich habe nicht das französische Original, sondern die deutsche Übersetzung von Claudia Hamm gelesen.

Seit Jahren ist sie die ‘deutsche Stimme’ von Carrère. Aus dieser Vertrautheit heraus übersetzt sie so elegant und zuverlässig. Die Fahrt durch die achtzehn eiskalten Jahre von Julie ist fantastisch, weil die schönen, einfachen Sätze von Claudia Hamm, häufig mit Einsprengseln aus unserer Alltagssprache, eine respektvolle Nähe zu Julie schaffen und die Leserin warm halten.

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2021

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