Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Verbrecher Verlag (Berlin)

Der Verbrecher Verlag steht in der Tradition linker Literaturverlage mit dem Schwerpunkt auf der Belletristik, zudem haben politische Sachbücher ihren festen Platz. Neben der Veröffentlichung von wichtiger Gegenwartsliteratur von Anke Stelling oder Enno Stahl und den Werkschauen bedeutender, aber fast vergessener Autor*innen wie Gisela Elsner und der Edition der Tagebücher Erich Mühsams setzt sich der Verlag für junge Talente wie Alexandra Riedel, Jana Volkmann, Manja Präkels oder Bettina Wilpert ein. ›Gute Bücher!‹ ist das Motto. 

Alexandra Riedel
SONNE, MOND, ZINN
(Roman), Verbrecher Verlag, Berlin 2020

In ihrem Debütroman „Sonne, Mond, Zinn“ widmet sich Alexandra Riedel in einer poetischen wie klaren Sprache der elterlichen Liebe. Und dem großen Schmerz, wenn sie fehlt. Die Geschichte um Esther Zinn bewegt sich zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten, Erinnerungen und Sehnsüchten und führt in weite Ferne bis an den äußersten Rand unseres Sonnensystems.

Auszug

Dinge passieren. Menschen auch, sagtest du immer, wenn du von deinem Vater sprachst. Irgendwann machte ich mir deine Aussage zu eigen, denn schließlich war auch ich passiert. Alles vererbt, füge ich manchmal noch knapp hinzu, aber es kostet mich immer Mühe, bei all dem zu lächeln. Und doch ist es so: Väter spielten bisher keine Rolle in unserem Leben, weder in deinem noch in meinem. Das war immer unser kleinster gemeinsamer Nenner, deiner und meiner.
Es heißt, 90 Prozent aller Menschen gehen fremd. Allerdings zählte dein Vater noch zu jenen 15 Prozent, deren Seitensprünge länger als eine Nacht andauerten. Also kein unüberlegter Hüpfer, bei dem die Arme plötzlich vor Schreck hochgerissen wurden, sondern einer von den weiteren Sprüngen, ein Sprung, bei dem die Arme lustvoll und genüsslich in der Luft kreisten. Der beste Weitspringer schaffte fast neun Meter, heißt es.
Dein Vater war Astronom. Soviel hatte dir deine Mutter erzählt, doch du wusstest nicht, wie lange das Verhältnis zwischen ihr und deinem Vater angehalten hatte. Du erinnertest dich allerdings an einen ganz bestimmten Mann, den du für deinen Vater hieltest. Vielleicht zu Recht.
Jedenfalls sagtest du, als Kind habest du diesen Mann auffällig oft gesehen, vom Fenster aus, im Weggehen mit der Mutter, den Arm um ihre Schultern gelegt. Immer sei es Abend gewesen, sagtest du, und immer habe er einen schwarzen Anzug getragen, manchmal auch einen Hut. Eine Melone wie Chaplin. Ein Hut mit breiter, nach innen gedrehter Krempe sei das gewesen. Du habest dir deshalb auch manchmal vorgestellt, wie es wäre, Chaplin zum Vater zu haben. Es gebe da doch dieses Lied: O mein Papa, war eine wunderbare Clown. Ei, wie er lacht, sein Mund sie sein so breit und rot. Und seine Aug’ wie Diamanten strahlen. Naja, und dann seist du eben das eine oder andere Mal von einem Mann mit Melone und viel zu großen Schuhen zur Schule begleitet worden.
Natürlich nicht wirklich, ich weiß.
Dergleichen sei dir nie wirklich passiert, weder mit deinem Vater, dem Astronomen, noch mit Chaplin, dem Komiker. Aber damit habest du leben können, sagtest du und auch, dass dein Weg zur Schule ohnehin nicht besonders weit gewesen sei.
Einmal habest du deinen Vater allerdings tatsächlich auf dem Weg zur Schule getroffen, und er habe dich gegrüßt. Ja, das habe er getan, er sei mit dem Rad auf dich zugefahren, habe dich angesehen und lächelnd die Hand gehoben. Der Vorderreifen sei dann ins Schlenkern geraten. Aber dein Vater habe mit links dagegen gelenkt, kräftig in die Pedale getreten und sei weitergefahren, wortlos an dir vorbei. Es sei lustig anzusehen gewesen, sagtest du.
Deine wenigen Erzählungen über deinen Vater hatten etwas Groteskes, Slapstickartiges, und immer waren es kurze, abrupt endende Szenen, in denen niemand sprach. Gut möglich, dass das deiner Vorliebe für Stummfilme geschuldet war.
Schon als Kind seist du ein Fan von ihnen gewesen, sagtest du. Du habest dich damals oft ins Lichtspielhaus geschlichen, heimlich durch den Hintereingang rein, am Filmvorführer, dem dicken Kins, vorbei, vorbei an den riesigen Projektoren. Ganz leise, auf Zehenspitzen seist du hineingeschlichen zu Charlie Chaplin, Buster Keaton, Harold Lloyd und Co.
Auch ich hatte sie kennengelernt, alle deine stummen Schwarz-Weiß-Helden. Nach und nach hattest du sie mir vorgestellt. Ich noch Kind, den Mund voller Popcorn und Limonade, umgeben von flackernden Bildern und deiner Stimme, die mir die Texttafeln vorgelesen hatte. Etwa die aus Chaplins The Kid. Erinnerst du dich?
Drei Frauen. Zwei sitzen auf den Stufen eines Hauseingangs, die dritte lehnt sich aus dem Fenster, schaut zu den beiden anderen.
Das Bild flackert.
Chaplin kommt um die Ecke, in seinem Arm ein Kind. Er will an den Frauen vorbei ins Haus. Eine steht auf, stemmt die Hände in die Hüften.
Schnitt.
Weiße Buchstaben vor schwarzem Hintergrund.
Du: Ist das dein Kind?
Schnitt.
Der Tramp nickt.
Schnitt.
Du: Wie heißt es?
Schnitt.
Der Tramp hält die Lippen verschlossen, verschwindet im Haus, kommt wieder zurück. Schnitt.
Du: John.
Irgendwann das Bild des Himmels. Buchstaben in den Wolken.
Ich: Und was steht da?
Du: Fünf Jahre später.
Wer über Chaplin nicht lache, werde niemals im Leben glücklich, sagtest du. Von allen Schauspielern war er dir der liebste. Ich hingegen hatte stets Buster Keaton vorgezogen. Er war der stummste aller stummen Clowns. Man nannte ihn The Great Stone Face. 

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2020

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