Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Ralph Hammerthaler

Ralph Hammerthaler, geboren 1965 in Wasserburg am Inn, lebt als Schriftsteller in Berlin. Sein Libretto Die Bestmannoper über den NS- Kriegsverbrecher Alois Brunner wurde von Alex Nowitz vertont und 2006 uraufgeführt; seine Stücke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und u.a. in München, Düsseldorf, Omsk, Prishtina, Tirana und Mexiko City gespielt. Zuletzt sind seine Romane Unter Komplizen (Verbrecher Verlag 2018) und Kosovos Töchter (Quintus Verlag 2020) erschienen. 

Stig Sæterbakken / Nino Vetri
Lillehammer – Palermo oder: Suite für eine viertel Kuh
(Notizen und eine Erzählung); Aus dem Norwegischen von Karl Clemens Kübler, aus dem Italienischen von Andreas Rostek, edition.fotoTAPETA, Berlin 2019.

Von der Edition fotoTAPETA habe ich, glaube ich, nicht mehr als drei Bücher. Alle drei hat mir Gisela geschenkt. Das erste heißt Die Selbstmordrate von Clowns und enthält Erzählungen des damals noch nicht so bekannten Serhij Zhadan; das zweite Berliner Notizen von Witold Gombrowicz und das dritte Lillehammer – Palermo oder: Suite für eine viertel Kuh. Dieses dritte hätte sie um ein Haar wieder mitgenommen.
Ende September trafen wir uns im Café Am Markt. Gisela zog das Buch aus der Tasche und sagte: Hier hast du den Wahnsinn der Literatur. Als Schriftsteller musst du das lesen.

Also, wenn mich etwas nicht interessiert, gab ich zur Antwort, dann sind es Schriftsteller, die über Schriftsteller schreiben. Alles allzu bekannt.
Pff, dann halt nicht.
Intuitiv schnappte ich mir das Buch, ehe sie es wieder einstecken konnte.
So bin ich auf Nino Vetri und Stig Sæterbakken gestoßen, den Sizilianer und den Norweger, die einander nie begegnet sind. Vetri schreibt über einen exzentrischen Künstler in Palermo, der langsam wahnsinnig wird. Nachdem er, durchaus verständlich, mit Zähnen den Theaterdirektor angefallen hat, weil dieser sein Stück über eine viertel Kuh nicht haben wollte, bringen sie ihn in eine psychiatrische Klinik. Vorher gibt dieser Künstler in seiner kleinen Bude Schauspielunterricht, er lehrt, nichts zu tun und nichts zu sein, statt ins gekünstelte Vorspielen zu fliehen; wenn jemand einnickt, lobt er ihn. Mit Kindern kann er gut. Sie himmeln ihn an, weil er selbst wie ein Kind ist und sich anarchische Späße ausdenkt. Weil er staunt über die Welt und alles Gestutzte, Brave und Gebildete verabscheut. Im Café hockt er mit seiner kleinen Tochter gerne unterm Tisch; als sie älter wird, will sie nicht mehr, sie steht da im roten Mantel und schaut ernst auf ihn herab. „Könnten wir uns nicht wie normale Leute hinsetzen?“
Oben, unterm Dach, wohnt Leona mit ihren Eltern. Sie ist sechs oder sieben, und jedes Mal, wenn wir uns im Treppenhaus sehen, will ich sie zum Lachen bringen. Gut bei ihr angekommen ist unser Treppenhausrennen, von unten nach oben in den fünften Stock. Sie hat gewonnen (weil ich sie gewinnen ließ, na ja, sie war ziemlich schnell). Im ersten Stock haben sie vor ein paar Tagen eine seltsame neue Birne eingedreht, hellgrelles Licht. Disco!, ruf ich Leona zu, morgen tanzen wir hier. Und dann tänzele ich ein bisschen herum, sie lacht und findet mich cool. Aber in ein paar Jahren wird das alles vorbei sein. Sie wird mit ihren Freundinnen an mir, dem Tänzer, vorbei nach oben steigen, und vielleicht wird sie peinlich berührt sein. Oder aber sie zwinkert mir zu. Dann hat es sich gelohnt.
„Jedes Mal, wenn mir wieder einfällt, dass ich trinken kann, dass es ja Alkohol gibt, freue ich mich so über alle Maßen.“ Das ist die letzte von Stig Sæterbakkens Notizen. Sie umfassen nur vierzig Seiten, aber für diese vierzig Seiten muss ich Gisela dankbar sein. Texte des Zweifelns, Lob der Einsamkeit, Texte des Scheiterns nach dreijähriger Arbeit, der Nullpunkt, Tage später dann ein Satz, den er mangels Papier direkt auf den Schreibtisch kritzelt, der erste Satz eines neuen Romans, der ihn viele, viele Seiten trägt, ehe er ihn, bevor er die Datei an seinen Verlag schickt, jählings löscht und stattdessen einfügt: „Folgendes geschah:“. Lange hielt sich Sæterbakken für den traurigsten Jungen in Lillehammer, bis er unverhofft, im Theater mit seiner Mutter, seine andere Seite entdeckte. Er lachte sich kaputt, lachte, dass es schon nicht mehr schön war, wie „ein brüllendes Ungeheuer“. So sah er seine Melancholie auf links gedreht wie einen Handschuh. „Der Handschuh meiner Melancholie, so zeigte sich, besaß ein Futter aus Gelächter, einem wilden und gackernden Lachen.“ Sæterbakken, von dem es nur den Roman Durch die Nacht auf Deutsch gibt, nahm sich 2012 das Leben.
Auch er hatte Töchter, Emma und Jenny. In den Notizen berichtet er von Fotos, die er jedes Mal anschauen muss, wenn er den Flur entlangläuft, Fotos von der jeweiligen Einschulung, jede hat ihre Daumen unter die Riemen des Schulranzens gesteckt. Er erkennt etwas Gezwungenes, Mutlosigkeit, „eine lauernde Verzweiflung in ihrem Lächeln“. Und er fragt sich, was er falsch gemacht hat. „Was, wenn all das, was wir für notwendig halten, um sie aufzubauen, sie in Wahrheit nur kaputt macht?“ Nino Vetris Exzentriker würde sich schütteln vor Lachen.
Warum kommen in diesem Text so viele Kinder vor? Das gibt es sonst nicht bei mir. Zwei aber müssen noch sein, dann ist Schluss, Sæterbakkens Nichten Eva und Inga, eineiige Zwillinge. Im Alter von drei Jahren ist Inga plötzlich weg, die Mutter sucht sie und findet sie im Keller vor dem Spiegel. Inga zeigt mit dem Finger auf sich und sagt: „Schau mal, da ist Eva.“

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2020

91