Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Cornelia Jentzsch

Cornelia Jentzsch, geboren 1958, ist Literaturkritikerin, Essayistin und Herausgeberin. Sie veröffentlicht im Rundfunk und in Printmedien, moderiert Veranstaltungen und ist Mitglied literarischer Jurys. In der Uckermark, wo sie lebt, organisiert sie monatliche Lesungen (www.warnitzerlesungen.de).
 

Jean-Henri Fabre
Erinnerungen eines Insektenforschers (Band I bis X)
Übersetzung aus dem Französischen von Friedrich Koch, Ulrich Kunzmann u. Heide Lipecky, mit Illustrationen von Christian Tannhäuser, Matthes & Seitz Berlin, 2009-2020.

Im Jahr 1880 erreichte Charles Darwin ein Brief aus dem kleinen französischen Ort Sérignan-du-Comtat. Der Absender, ein gewisser Jean-Henri Fabre, schrieb dem britischen Naturforscher:
„Erlauben Sie mir, Ihnen … ein Exemplar meiner Entomologischen Erinnerungen anzubieten, die sich experimentell mit dem Instinkt bei Insekten befassen. Einige meiner Forschungen sind Ihnen bereits bekannt, aber im vorliegenden Werk werden sie durch neue Beobachtungen ergänzt; zahlreiche andere erscheinen zum ersten Mal. Da das Thema für viele Leser von Interesse ist, dachte ich, ich sollte die zu strenge akademische Form aufgeben und meine Feder etwas freier laufen lassen, denn so wie sie ist, mindert meine Art zu Schreiben in keiner Weise die strenge Genauigkeit der Fakten.“
Darwin antwortete „mit größtem Respekt und Vertrauen“ und in der Folge entspann sich ein fachlicher Briefwechsel zwischen beiden. Obwohl Fabre eigentlich Darwins Entdeckung, dass nicht eine ursprüngliche Schöpfung, sondern die Evolution das Leben voranbringe, ablehnte.
Das Besondere an diesen Entomologischen Erinnerungen Fabres, später in Frankreich in mehreren Bänden und über mehrere Jahre hinweg veröffentlicht als "Souvenirs entomologiques“, sind nicht nur ihre wissenschaftliche Präzision und viele bis dahin unbekannte Entdeckungen im Reich der Insekten und Gliedertiere. Faszinierend sind vor allem die Leidenschaft, mit der sich Fabre über vierzig Jahre lang winzigen Lebewesen widmete, seine außergewöhnliche Beobachtungsgabe und der hinreißende literarische Stil, in dem er seine Erinnerungen aufschrieb. Victor Hugo verehrte ihn als den "Homer der Insekten“, der Dramatiker Edmond Rostand als "Vergil".
Fabre war zunächst Lehrer in Ajaccio, später Physikprofessor in Avignon. Seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse musste sich Fabre aus finanziellen Gründen weitestgehend im Selbststudium aneignen. Bereits in dieser Zeit zeigte sich Fabres Begabung, wissenschaftliche Fakten außerordentlich lebendig zu vermitteln, seine zahlreichen Bücher machten ihn landesweit bekannt. Nach einem Eklat - Fabre sprach in seinen Abendkursen, an denen auch Mädchen teilnehmen durften, nach Geschmack der katholischen Kirche zu freizügig über die Bestäubung von Blüten - verlor er seine Mietwohnung in einer katholischen Einrichtung. Was sich aber letztlich als Glück erwies. Mit finanzieller Unterstützung von Freunden konnte er für seine Familie ein von Distelfeldern, Brombeerranken und Platanen umsäumtes Landhaus am Rande des kleinen Dorfes Sérignan-duComtat in der Provence erwerben, seinem „Harmas“. Gerade dessen karger Boden barg unendlich viele Insekten, denen sich Fabre die nächsten vierzig Jahre en détail widmete. Hauptfiguren seiner Erinnerungen sind solch seltsame Gestalten wie Gottesanbeterin, Nachtpfauenauge, Dolchwespe, Heiliger Pillendreher, Eichenbock, schwarzbäuchige Tarantel, Pelzbienenölkäfer, Gelbflügelige Grabwespe, Bärenhafte Distelrüssler, Zwergzikade, Köcherfliege, Pappelblattroller oder Rebenstecher. Stundenlang unter Verzicht auf Nahrung und Wasser hockte, kroch Fabre selbst im hohen Alter noch am Boden und notierte minutiös deren Tagesablauf, Nahrungssuche, Paarung, Revierkämpfe, Exkursionen oder Höhlenbau. Seine Schilderungen dieses Paralleluniversums zu unseren Füßen, die sinnierenden Kommentare und Schlussfolgerungen lesen sich spannend wie Kriminalgeschichten vermischt mit philosophischen Gedanken. Wenn Fabre vom sozialen Verhalten des Minotaurus Thyphoeus, des Stierkäfers, berichtet, zieht er unweigerlich Vergleiche zu Verhalten und Moral des Menschen. Die Natur kommt dabei nicht unbedingt schlechter weg. Heute zählt Jean-Henri Fabre zu den Begründern der Verhaltensforschung.

Was sich in jeder der Schilderungen Fabres mitteilt, sind sein unendliches Staunen vor der Natur. Er ist fasziniert von den so winzigen wie vollendeten Wesen, die die Natur in Jahrmillionen geschaffen und ausdifferenziert hat. Seine Begeisterung ist ansteckend, sein Blick schult unweigerlich auch den Blick des Lesers. Nach der Lektüre dieser Erinnerungen dürfte kaum noch ein Leser den Pantoffel heben angesichts von Spinne oder Wespe. Dafür lehrt Fabre viel zu viel Respekt vor der Sinnfälligkeit der Natur, den individuellen Leistungen der zahlreichen Klein- und Kleinstlebewesen und dem ausgeklügelten ineinander verschränkten System von Fauna und Flora. Von Fabre stammt der Satz: „Ich glaube nicht an Gott, ich sehe ihn.“

Die zehnbändigen „Erinnerungen eines Insektenforschers“ ("Souvenirs entomologiques“) sind im Verlag „Matthes & Seitz Berlin“ erschienen. Eine editorische Glanzleistung des Verlages, des Übersetzers Friedrich Koch und des Zeichners Christian Thanhäuser. Jahr um Jahr konnte ein Band der Gesamtausgabe herausgegeben werden. Mit dem 2020 erschienenen abschliessenden Band liegt nun Fabres Hauptwerk erstmals komplett auf Deutsch vor. Eine schon längst überfälliges Standardwerk auf dem deutschsprachigen Buchmarkt.

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2020

91