Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Guggolz Verlag (Berlin)

Der Guggolz Verlag wurde 2014 gegründet, um vergessene oder übersehene literarische Klassiker des 20. Jahrhunderts aus Nord- und Osteuropa, von den Färöern bis nach Mazedonien, in neuer Übersetzung oder erstmals auf Deutsch zu veröffentlichen. Ziel ist es, Regionen auf der literarischen Landkarte sichtbar zu machen, die häufig nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Zwei bis drei Neu- und Wiederentdeckungen erscheinen pro Halbjahr. Mit aktuellen Nachworten und durch ergänzende Kommentierung wird die in die Literatur eingegangene historische, politische, kulturelle und sprachliche Vielfalt in Übersetzung wieder lebendig gemacht. Im aktuellen Programm stehen ein lettischer Klassiker und nobelpreisgekrönte dänische Erzählungen.
 

Michail Prischwin
»Дневники Tagebücher«. Band I, 1917 bis 1920
Aus dem Russischen, herausgegeben und kommentiert von Eveline Passet, Mit Nachworten von Eveline Passet und Michail Schischkin, Guggolz Verlag, Berlin 2019.

Unter dem Sowjetregime schrieb Michail Prischwin (1873–1954) seine Tagebücher im Verborgenen – niemand, nicht einmal seine Frau, wusste davon – und in winziger, selbst mit der Lupe kaum lesbarer Schrift: damit, falls er verhaftet würde, der Inhalt nicht gegen ihn zu verwenden wäre. Doch ging es ihm mit diesem heimlichen Schreiben nicht nur um den physischen Selbstschutz, sondern auch den psychischen: Die Tagebücher sind ein Versuch, den eigenen weltwahrnehmenden Blick, das eigene Fühlen und Denken, die eigenen Wertvorstellungen und die eigene Sprache freizuhalten von den Korruptionen, denen viele unterlagen aus Angst, aus Glaube oder aus mangelnder Kraft, in Diskrepanz zur Umgebung zu leben.

Die Tagebücher bilden ein Mosaik aus Alltagserlebnissen, Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten wie einfachen Menschen, aus Betrachtungen zur Literatur oder Philosophie, aus Träumen und Selbstbeobachtungen, Naturschilderungen, Briefentwürfen, Skizzen zu literarischen Arbeiten etc. Aber vor allem verzeichnen sie immer wieder kleine und kleinste Mutationen des politisch-gesellschaftlichen Lebens und deren Niederschlag im einzelnen Menschen, im Zwischenmenschlichen, in der Sprache. Dabei umkreist der Autor zeitlebens bestimmte Themenkomplexe, etwa das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, auch Individuum und Macht, von aufgeklärtem und mythischem Bewusstsein, Mensch und Natur, Industrialisierung und Mechanisierung des Lebens, Glaube und Freiheit und vieles mehr. Reflektiert werden diese Themen nicht zuletzt vor der in Russland beständig akuten Frage des Verhältnisses von Russland und Europa und besonders von Russland und Deutschland: Prischwin war stark geprägt gerade von der deutschen Kultur, er hat Nietzsche und Rudolf Steiner ebenso rezipiert wie Kant oder Marx, ganz zu schweigen von den Schriftstellern. In Prischwins Tagebüchern ist »Leben gesammelt« wie in Victor Klemperers nicht minder umfänglichen Tagebüchern, mit denen sie viel gemeinsam haben. Die Tagebücher sind ein hochgradig wichtiges Zeitdokument der späten zaristischen, der frühen bolschewistischen und der gesamten Stalinjahre, wie es kein zweites von diesem Umfang gibt für diese Epoche. Auf sie wird in verschiedensten Publikationen immer wieder verwiesen, aus ihnen wird immer wieder zitiert, sei es in Orlando Figes’ »Die Flüsterer« oder Douglas Smiths »Der letzte Tanz: Der Untergang der russischen Aristokratie«, sei es in Rezensionen zu einschlägiger Literatur aus der Feder anderer zeitgenössischer Sowjetschriftsteller – zweifellos deshalb, weil Prischwin mit seinen Tagebüchern einen ganz einzigartigen Resonanzkörper seiner Epoche darstellt.

Eveline Passet hat die Aufgabe übernommen, aus 18 russischen Bänden, aus 13.000 Seiten im Original eine Auswahl in vier Bänden zusammenzustellen, sie zu übersetzen und zu kommentieren. Der erste Band reicht von 1917, dem Jahr der Februar- und der Oktoberrevolution, bis 1920, jenem Bürgerkriegsjahr, das den Sieg der Bolschewiki besiegelte. In ihnen zeigt sich ein Mensch, der versucht, das, was um ihn herum passiert, mitzudenken, sich zu orientieren, zu verstehen und einzuordnen. Er leidet an den Zeiten, muss sich zurechtfinden, und schafft es doch immer, selbst in Bedrängnis, sich zur Welt mit seiner ganzen Wahrnehmungskraft zu öffnen, um so viel wie möglich von dieser Zeit festhalten und überliefern zu können.

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2020

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