Leselampe

2020 | KW 13

© Mathias Prinz

Buchempfehlung der Woche

von Juliana Kálnay

Juliana Kálnay ist Autorin des Romans Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens (Verlag Klaus Wagenbach, 2017), der mit dem aspekte-Literaturpreis sowie dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet wurde. Eine eigene Übersetzung des Romans ins Spanische erschien im Frühjahr 2020 bei Acantilado. Seit Herbst 2018 ist Juliana Kálnay künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schwerpunkt Literarisches Schreiben an der KHM in Köln.

Emma Donoghue
Raum
(Roman); Aus dem Englischen von Armin Gottesmann, Piper, München 2011

In den letzten Wochen, in denen unsere Wirklichkeit mehr dystopische Züge angenommen hat, als wir es in dieser kurzen Zeit für möglich gehalten hätten, ertappe ich mich immer häufiger dabei, aktuelle Geschehnisse und Bilder in einer Art Déjà-vu mit Szenen abzugleichen, die mir aus der Literatur bekannt sind.

Ich laufe im Supermarkt an leeren Regalen vorbei, sehe mit Konservendosen und Toilettenpapier vollgepackte Einkaufswägen, und denke an Cormac McCarthy und an seinen Roman Die Straße, in dem ein Vater mit seinem Sohn und einem mit Konserven gefüllten Einkaufswagen durch ein postapokalyptisches Amerika zieht, in dem Lebensmittel wie auch Solidarität ein knappes Gut geworden sind.

Und als ich von den kilometerlangen Staus las, die sich vor ein paar Tagen vor der deutsch-polnischen Grenze bildeten, und in denen die Reisenden bis zu zwanzig Stunden feststeckten und mit Decken und Essen versorgt werden mussten, fühlte ich mich an Julio Cortázars Erzählung Südliche Autobahn erinnert. Die Erzählung spielt in einem Stau vor Paris, der sich über mehrere Monate zieht. Die Figuren, die nach dem Modell ihres Autos benannt werden – der Ingenieur aus dem Peugeot 404, die junge Frau aus dem Dauphine, der Herr aus dem Caravelle, die Familie aus dem Peugeot 203 – verlassen ihre Wagen, informieren und helfen einander aus, suchen, teilen oder verstecken Vorräte, finden nach den anfänglichen Nervosität einen Alltag in der Ausnahme und für die Zeit, die der Stau andauert, entsteht eine Schicksalsgemeinschaft und sogar eine Liebe.

Ich denke auch an andere Texte, in denen eine räumliche Begrenzung zum Motor der Erzählung wird, wie den Roman Raum von Emma Donoghue, dessen erster Teil sich vollständig innerhalb eines 12qm großen Zimmers abspielt. Hier lebt die Protagonistin seit ihrer Entführung mit ihrem mittlerweile fünfjährigen Sohn Jack. Hier schlafen, kochen, baden sie, spielen und treiben Sport und sind von den Lebensmitteln und „Sonntagsguttis“ abhängig, die ihnen der Entführer mitbringt. Der Fernseher ist ihre einzige Verbindung zur Außenwelt, die Jack, da er sie nie kennengelernt hat, für einen fremden Planeten hält.

Isoliert ist auch die Erzählerin in Marlen Haushofers Roman Die Wand. Marlen Haushofer (die übrigens kürzlich ihren 50. Todestag hatte) beschreibt darin, wie eine Frau sich plötzlich allein und im wörtlichen Sinne – nämlich durch eine unsichtbare Wand – von der Welt abgeschieden in den Bergen wiederfindet. Eine Cousine und ihr Mann mit prepperähnlichen Tendenzen hatten sie in ihr Jagdhaus eingeladen, doch von einer Fahrt ins Tal kehren sie nicht mehr zurück und die Erzählerin hat guten Grund anzunehmen, dass die Wand alles Leben hinter ihr ausgelöscht hat. Die Konzentration auf die Arbeit des Überlebens in der Natur und die Verantwortung, die die Erzählerin gegenüber ihren Tieren verspürt – ein Hund namens Luchs, eine Kuh, später auch Katzen – halten sie selbst am Leben.

Es sind atmosphärisch sehr unterschiedliche Texte, die mir in diesen Tagen der überwiegenden räumlichen Isolation in den Sinn kommen, aber alle würde ich auch ohne diese wärmstens empfehlen.

Julio Cortázar: Südliche Autobahn, In: Ders.: Die Erzählungen Bd. 2 Südliche Autobahn. Suhrkamp Verlag, 2019 (Aus dem Spanischen von Fritz Rudolf Fries).
Marlen Haushofer: Die Wand, Mohn Verlag,1963.
Cormac McCarthy: Die Straße, Rowohlt Verlag, 2007 (Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl).

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