Leselampe

2020 | KW 14

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Buchempfehlung der Woche

von Manuel Niedermeier

Manuel Niedermeier, geboren 1984 in Regensburg, studierte Germanistik und Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaften in Regensburg sowie Komparatistik in Wien. 2014 erschien sein Debütroman Durch frühen Morgennebel im Verlag C.H. Beck. Er erhielt verschiedene Preise und Stipendien, u.a. den Bayerischen Kunstförderpreis sowie das Aufenthaltsstipendium des Berliner Senats im Literarischen Colloquium Berlin. 2019 hat er im Rahmen der Bayerischen Akademie des Schreibens (Literaturhaus München) ein Seminar für Studierende geleitet. Manuel Niedermeier lebt in Berlin und arbeitet neben dem Schreiben als Bühnentechniker am Maxim-Gorki-Theater.

Nava Ebrahimi
Das Paradies meines Nachbarn
(Roman), btb-Verlag, München 2020

Im angelsächsischen Raum gibt es einen Begriff, den ich liebe, weil er den Zauber beschreibt, zu dem Literatur fähig ist: armchair travelling. Ist er nicht großartig? Man sitzt also bequem im Sessel (bequem, selbst wenn man sich über Stunden hinweg kein einziges Mal bewegt hat) und wird gewissermaßen aus sich selbst herausgehoben und an einen anderen Ort befördert. Abrakadabra. Romane sind dabei, finde ich, die wunderbarsten aller Armchair-Travelling-Maschinen. Sie bringen uns nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in eine andere Zeit oder zu anderen Menschen, ja, sie befördern uns in andere Menschen hinein. Keine andere Kunstform vermag es, die Gedankengänge anderer so gut nachzuvollziehen, geschweige denn zu fühlen, was andere fühlen. Klingt das nicht nach etwas, das wir besonders gerade sehr gut gebrauchen können?

Ganz vorzüglich reist es sich übrigens mit Nava Ebrahimis neuem Roman Das Paradies meines Nachbarn. Die Reise beginnt in den 80er Jahren im Iran und führt uns ins gegenwärtige München (also fast gegenwärtig), in die steril hippe Welt des Designs, und auf die Dachterrasse eines Luxushotels in Dubai, wo wir gerade Cocktails trinken, während über dem Persischen Golf die von Aerosolen vergrößerte Sonne untergeht. Vor kurzem haben wir Ali Najjar kennengelernt und waren von seiner Präsenz so eingenommen, dass wir ihn kurzerhand auf diesen Trip begleitet haben, um herauszufinden, was es mit der kryptischen SMS auf sich hat, die ihm ein Freund seiner Mutter nach deren Tod geschrieben hat: „... Ich verfüge über einen Brief, den ich Ihnen überreichen soll ... Es ist wichtig ... Für Sie mindestens so sehr wie für mich.“ Eigentlich hätte Ali Najjar im Ersten Golfkrieg, wie fast 100.000 Kinder auf Iranischer Seite, den Märtyrertod sterben sollen, aber er hat überlebt. Dank seiner Mutter. Über die Türkei ist er nach Deutschland gekommen und hat sich dort ein neues Leben aufgebaut. Er entwickelte sich zum gefragten Designer, einem Typen so arrogant wie klug wie einfühlsam, der Produkte entwirft, denen die deutsche Zögerlichkeit fehlt und die Szene deswegen in ehrfürchtigen Aufruhr versetzt. Wir sitzen aber nicht alleine mit Ali auf der Terrasse. Mittlerweile ist die Sonne untergegangen, Sterne glitzern, ebenso die Fenster der Hotels. Neben uns sitzt Sina, er trinkt gerade seinen zweiten Cocktail. Sina Khoshbin ist Halbiraner und Angestellter in der Firma, die Ali Najjar vor wenigen Tagen in München übernommen hat. Das und seine emotionale Verfassung (schwankend zwischen allgemeiner Sinn- und spezifischer Ehekrise) machen ihn zum perfekten Komplizen für Ali Najjars Plan. Ali muss unbedingt diesen Brief lesen, der ihm in Dubai übergeben werden soll – weil er nicht in den Iran einreisen durfte, hat er schon zu Lebzeiten zu viel von seiner Mutter verpasst –, was Ali Najjar aber keinesfalls möchte, ist den Bekannten seiner Mutter treffen, diesen zweiten Ali, denn tief in sich, verschüttet unter überlebensnotwendiger Coolness, ahnt Ali Najjar bereits, was es mit dem zweiten Ali auf sich haben könnte.

Was Nava Ebrahimis Roman auszeichnet, sind die Figuren, nein, die Menschen. Ali Najjar, Sina Khoshbin, Ali-Reza ... Ich habe die drei natürlich nie gesehen und trotzdem sind sie in mir präsent, als wären es alte Bekannte. Es würde mich nicht wundern, wenn sie mir demnächst beim Spazieren auf der Straße begegnen würden; und dann würde ich sie fragen – natürlich vorerst mit zwei Metern Sicherheitsabstand – wie es ihnen ergangen ist nach ihrem Abenteuer in Dubai, denn aufgehört zu leben, das haben sie nach dem letzten Satz von Das Paradies meines Nachbarn nicht.

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2020

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