Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Viktoriya Stukalenko

Viktoriya Stukalenko, geb. 1984 in Zhytomyr (Ukraine), studierte Anglistik, Slawistik und Übersetzungswissenschaft in Odessa und  Heidelberg. Sie promovierte an der Universität Heidelberg und absolvierte ein Volontariat im Literarischen Colloquium Berlin. Derzeit lebt sie als freischaffende Übersetzerin in Berlin.

Dmitrij Kapitelman
Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters
Hanser Berlin, 2016.

Der in der Ukraine geborene, in Leipzig aufgewachsene und in Berlin lebende Autor Dmitrij Kapitelman schreibt ein autobiografisches Buch über seinen Vater, der sich nirgends heimisch fühlt und mit der Zeit quasi „unsichtbar“ wird. Bevor Leonid Kapitelman als „Wiedergutmachungsjude“ mit seiner Familie nach Deutschland immigrierte, hatte er zwei Drittel seines Lebens in Kiew verbracht. Die unterschiedlichen Herkunfts- und Lebensräume zwischen Ost und West verursachen beim Vater die auf paradoxe Weise einander ausschließenden Geisteshaltungen. Selbst zum Judentum hat er keine klare Haltung. Weder feiert er jüdische Feste noch Weihnachten noch seine eigenen Geburtstage. Ungerne geht er raus: „In Deutschland geht Papa nicht mal an Silvester vor die Tür“. Mit der Zeit wird er immer skeptischer und pragmatischer: Dem Motto „Sich von allem abkapseln. Unsichtbar werden“ folgend, versucht er sich zwischen dem eigenem Lebensmittelladen und Zuhause zu verbarrikadieren. Vielleicht hat er einfach einen widersprüchlichen Charakter. Oder hat das Leben als Jude in der Ukraine und als Migrant in Deutschland zur Identitätsverwirrung geführt? Der Sohn Dima sehnt sich nach „einem unverstellten Blick“ auf seinen „enigmatischen“ Vater und überredet ihn, gemeinsam eine Reise nach Israel zu unternehmen. Möglicherweise findet er ja im Heiligen Land, in dem Umfeld, das er nicht so einfach weglachen kann, den Weg zu sich selbst. Bietet diese „Heimat der ewig Heimatlosen“ eine lang ersuchte Rettung aus eigener „Selbstverständnislosigkeit“?

Die Topografie des Romans wird durch mehrere Reisestationen zwischen Israel und Palästina strukturiert: Netanya, Jerusalem, Tel Aviv, Ramallah, Bethlehem... Die Reise in die Fremde wird zu einer Reise in die Familiengeschichte, zu sich selbst, zu den alten Freunden, die man noch aus Kiew kennt, und zu den neuen: „Wer wir sind, weshalb wir es sind und wie wir das, was wir sind, in Zukunft sein wollen?“ Sollte der Sehnsuchtsort Israel vielleicht neue Heimat werden? ​Oder träumt man von der Geborgenheit des potenziellen Zufluchtsorts nur mit Blick auf die Rückkehr nach Deutschland? Braucht man überhaupt solche „Selbstfindungsreisen“ oder führen die zu einem noch stärkeren „Identitätskater“? Sowohl der Vater als auch der Sohn machen einen Schritt auf das Judentum zu und blicken unterschiedlich auf eigene Wurzeln. 

Jenseits aller Stereotypen und Klischees, mit viel Witz, Ironie und Herzenswärme kommt Dmitrij Kapitelman auf solche Themen wie Heimatssuche, Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Vaterliebe und Versöhnung. Eine temporeiche und unterhaltsame Geschichte, die keinen gleichgültig lässt.

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2020

91