Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von TRANSIT Buchverlag (Berlin)

Der TRANSIT Buchverlag wurde im April 1981, also vor nun schon fast vierzig Jahren in Berlin-Kreuzberg gegründet. Wir wollten und wollen Bücher machen, die die gängigen Schubladen von Literatur und Sachbuch, von Politik und Geschichte verlassen.
Der Beginn war ein Buch über die damals politisch boykottierte S-Bahn, unterlegt mit einem literarischen Text von Uwe Johnson.
Dann folgten Kulturgeschichten, Bücher, die alltägliche Phänomene historisch hinterfragten, und Biographien von Juden, die mit viel Glück der Vernichtung entkommen konnten (u.a. Hellmut Stern, Gabriele Tergit, Heinz Berggruen).

1989 eine Zäsur: ein mehr belletristisches Programm mit Peter Wawerzinek, Ines Geipel, Hubert Fichte, Imre Kértesz, Else Lasker-Schüler, F.C. Delius, Dietmar Sous u.a.. Inzwischen auch viele ausländische Titel: die Katalanin Maria Barbal, isländische, norwegische, finnische, brasilianische, kenianische oder senegalesische Entdeckungen.

Im Herbst 2020 kommt ein in Portugal gefeierter Autor aus den Kapverden dazu (Germano Almeida), ein neuer, frecher Roman von Dietmar Sous (»Bodensee«) sowie ein von Abbas Khider neu herausgegebenes, sehr aktuelles Buch von Inge Deutschkron: »Emigranto. Vom Überleben in fremden Sprachen«.

Peter Henning
DIE TOTE VON SANT ANDREU
(Roman), Transit Buchverlag, Berlin 2020.

Mitten in seiner Vorlesung an der Kölner Universität wird Lennart Helm herausgerufen: ein Kriminalbeamter teilt ihm mit, dass seine Zwillingsschwester Luise an diesem Morgen bei einem Attentat auf die Metro in Barcelona ums Leben gekommen sei. Der IS habe sich inzwischen zu dem Anschlag bekannt.

Helm geht benommen nach Hause, denkt über seine Schwester und ihr besonderes Verhältnis zueinander nach, verfolgt die Sondersendungen über das Attentat und bucht einen Flug nach Barcelona, noch für den gleichen Tag.

Dort gelandet, nimmt er sofort ein Taxi zu der Metrostation, wo der Anschlag verübt worden war - 82 Tote, eine davon seine Schwester. Helm will wissen, wie und mit wem sie, die in letzter Zeit den Kontakt zu ihm nahezu abgebrochen hatte, gelebt hat. Er findet die Wohnung, bricht dort ein und wundert sich, wie ärmlich es dort aussieht: Er erinnert sich an ihre letzten Mails, in denen sie gegen die Konsumgesellschaft wetterte und von neuen »höheren« Zielen schwärmte.

Im Polizeikommissariat, das die Ermittlungen führt, wird ihm gesagt, seine Schwester Luise habe »dunkle Flecken« in ihrer Lebensführung, sei zu viel mit »Ausländern« zusammen gewesen. Helm vermutet, die Polizei versuche irgendetwas zu konstruieren. Doch schließlich taucht ein Foto auf, das Luise völlig vermummt und mit einem Baby auf dem Arm zeigt - neben ihr ein martialisch posierender Mann mit einer Kalaschnikow vor der Brust. Helm versucht sich vorzustellen, wie das Foto entstanden sein könnte, vielleicht ein Fake, um seine Schwester unter Druck zu setzen? Aber langsam dämmert die Erkenntnis, dass Luise kein Opfer, sondern Täterin war, eine furchtbare Entdeckung, die ihn fassungslos macht.

Wie konnte das geschehen, wie konnte seine von ihm bewunderte Schwester, intelligent und voller Mut, Energie und Widerstand gegen alle Formen von Unterdrückung, ausgerechnet dem IS und seiner Menschen und besonders Frauen verachtenden Ideologie dienen?

Peter Henning, in Köln lebender Romancier und Erzähler, greift immer wieder Themen auf, die von politischer Aktualität sind, aber nicht in Form von theoretischen Erklärungen, sondern in Plots und Szenen, in denen sich Menschen aus oft rätselhaften Gründen so oder so persönlich und politisch verhalten. Die Interpretation dieser faszinierenden Geschichten überlässt er den Leserinnen und Lesern - und garantiert damit ganz besondere Einsichten und eine ganz besonders fesselnde Lektüre.
Peter Henning studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main. Seit 1985 ist er als freier Journalist für verschiedene deutsche Zeitungen und Rundfunkanstalten tätig, später wurde er Leiter des Literatur-Ressorts bei der Schweizer Weltwoche.                                                                                      Peter Henning ist Verfasser von Romanen, Erzählungen und Gedichten. Zuletzt erschien sein Roman »Die Tüchtigen«.

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2020

91