Leselampe

2020 | KW 20

© Louis Volkmann

Buchempfehlung der Woche

von Madeleine Prahs

Madeleine Prahs ist Autorin. 2014 erschien ihr Roman „Nachbarn“, 2017 der Roman „Die Letzten“. Sie lebt in Leipzig.

Jurek Becker
Am Strand von Bochum ist allerhand los. Postkarten. (Hrsg.: Christine Becker)
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.

„Verehrte Gewürzgurke“, „Du rauschende Ballnacht“, „Du toller Einfall“, „Sehr geehrter Bratklops“, „Du alter Kostenvoranschlag“ – einige der originellsten Anreden, die die deutsche Literatur je hervorgebracht hat (und von Literatur ist unbedingt zu sprechen) finden sich in dem großartigen Nachlassband „Am Strand von Bochum ist allerhand los“. Er enthält eine Zusammenstellung von Postkarten, die der Schriftsteller und Drehbuchautor Jurek Becker von 1978 bis kurz vor seinem Tod, im Jahre 1997, an seine Familie, an Freunde und Weggefährten geschickt hat, unter anderem an seinen Verleger Siegfried Unseld, seine Lektorin Elisabeth Borchers, das Ehepaar Ottilie und Manfred Krug (mit Manfred Krug verband Becker eine enge Freundschaft, beide gaben sich zeitweise als Brüder aus), seinen Sohn Johnny und nicht zuletzt, es sind mitunter die schönsten lyrischen Lebenszeichen, an seine Frau Christine Becker. 
Die Motive der Postkarten sind sorgfältig ausgewählt, und oft erzeugen sie allein bildlich oder im Zusammenspiel mit dem Text eine herrliche Komik. Seine poetischen Kurzmitteilungen entwarf Becker vorab und trug sie in Schulhefte ein (ein Verfahren, das er auch beim Schreiben seiner Romane anwendete). Was auf den ersten Blick wie persönliche Grußbotschaften anmutet, sind eigenständige Kunstwerke – manchmal vor Witz und Chuzpe sprühend, manchmal melancholisch und nie belanglos geben sie Einblick in das Leben und die Haltung dieses Ausnahmeschriftstellers. 

Verschickt wird aus aller Welt – aus Neuseeland, Australien, Island oder Israel, aus Polen, Indien oder dem Zimmer nebenan. Im Januar 1988 erhält Walburga Zeeh, die legendäre Chefsekretärin des Suhrkamp-Verlags, Post aus Kailua-Kona und erfährt, wahrscheinlich als eine der ersten, die ganze Wahrheit. „Liebste Burgel, wir sind einem großen Schwindel auf die Schliche gekommen: es gibt auf Hawaii überhaupt keine Vulkane! Die glühende Lava, die man auf Postkarten sieht, ist dort reinretouschiert, und für die Touristen, die nicht näher als 300 m an die Kraterränder randürfen, werden von arbeitslosen Hawaiianern Unmengen von Räucherstäbchen abgebrannt.“ Die Bausteine der Realität sind für Becker lediglich Ausgangsmaterial für das Spiel mit der Wirklichkeit, und er bringt Fakten in einen fiktiven, deswegen aber nicht weniger möglichen Zusammenhang. Diese poetische Weltaneignung scheint in zahlreichen Postkarten immer wieder auf, und Becker bewahrt sich diese, auch nach seiner Krebsdiagnose, auf eine lakonische, humorvolle Weise – bis zum Schluss. 

Und noch etwas macht diesen Band zu einem geistigen Grundnahrungsmittel, etwas, was in Zeiten todernster „Ich“-Vermarktung immer seltener wird: Selbstironie. Als im Sommer 1992 Jurek Beckers Roman „Amanda Herzlos“ erscheint, führt ihn die anschließende Lesereise in so glanzvolle Metropolen wie Bochum, Essen, Hannover oder eben Stuttgart. 
„Du alter Doppelwhopper“, schreibt Becker im November 1992 an seine Frau Christine: „Stuttgart, mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen. Ich sitze im Café und stehe nicht mehr auf der Stern-Bestsellerliste. Begreifst Du das – einfach verschwunden! Wie können Menschen anderen Menschen so etwas antun? Gehört eine solche Sache nicht zu amnesty international? Auf alle Fälle werde ich bei der Lesung heute abend darüber reden, nur darüber. We shall overcome! J.“

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2020

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