Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Elfenbein Verlag (Berlin)

24 Jahre Elfenbein Verlag: Über 200 Titel von Klassikern und Zeitgenossen der deutschen und internationalen Literatur, die glückliche Wiederbegegnungen und überraschende Entdeckungen ermöglichen: In unseren Regalen stehen die Renaissancepoeten Pierre de Ronsard und Luís de Camões neben den europäischen Klassikern der Moderne: Machen, Powell, Raven, Elytis, Kazantzakis, Ritsos, Seferis, D’Annunzio, Gozzano, Sagarra, Porcel; der tschechische Undergroundliterat Egon Bondy neben dem ungarischen Meister des Katastrophenwitzes P. Howard (Jenő Rejtő); eine achtbändige Klabund-Werkausgabe neben den bemerkenswerten Büchern von Isabelle Azoulay, Ralph Roger Glöckler, Alban Nikolai Herbst, Ulrich Holbein, Rainer Kloubert, Pol Sax, Einar Schleef, Tobias Schwartz und Nicolaus Sombart.

 

Tobias Schwartz
Vogelpark
(Roman); Elfenbein Verlag, Berlin 2020

Emlichheim 1985: Der neunjährige Jonas fährt an einem Vormittag des Sommers, in dem das erste „Schengener Abkommen“ getroffen wird, mit seiner Mutter zum Einkaufen in die nahe gelegenen Niederlande. Noch bestimmen Schlagbäume die Grenze, Zöllner kontrollieren die Papiere, und im Auto, einem kleinen R4, ist es drückend heiß. Doch Jonas, der derweil die Kiebitze auf den umliegenden Wiesen beobachtet, hat nicht nur Hitze und Durst auszuhalten. Die Ehe seiner Eltern ist kaputt, sein Vater erscheint immer unberechenbarer. Zudem lauern ihm ständig die Nachbarsjungen auf, um ihn zu verprügeln, und der Grund, weshalb er nicht zur Schule muss, ist ein schlimmer Asthmaanfall. Um all dem zumindest zeitweise zu entfliehen, verfolgt Jonas den fantastischen Traum, einen Vogelpark zu errichten — und zwar im Garten seines dörflichen Zuhauses. — Der neue Roman von Tobias Schwartz führt wieder in die niedersächsische Provinz, diesmal in das Jahr, in dem der Schlusssatz aus Beethovens Neunter offiziell zur Europahymne erkoren wurde. Mit beeindruckender Leichtigkeit und feinem Humor erzählt der Autor von „Nordwestwärts“ von den schwerwiegenden Ereignissen und Schicksalsschlägen im Leben eines heranwachsenden Jungen und lässt poetisch eine Welt wieder auferstehen, die uns viel näher ist, als wir vielleicht glauben.
Tobias Schwartz (geb. 1975) lebt in Berlin. Sein Debütroman Film B erschien 2007, eine Bühnenfassung hatte 2008 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Premiere. Seine Theaterstücke waren unter anderem am Maxim-Gorki- Theater, am Hans-Otto-Theater, Potsdam, sowie an verschiedenen Berliner Off-Theatern zu sehen. 2013 war Schwartz Stipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin, 2015 erhielt er das Albrecht-Lempp-Stipendium Krakau. 2019 erschien der Roman Nordwestwärts als erster Teil eines auf vier Bände angelegten Zyklus, der vor allem um den niedersächsischen Ort Emlichheim kreist.

Textauszug:
Der Junge musste den Blick abwenden, so hell war das Licht. Die Sonne schien unbarmherzig, und die Peripherie glühte in einem flackernden Weiß. Hielt er aber sein Gesicht in Richtung Sonne und schloss die Augen, sah er zunächst Rot. Schloss er sie fester, sah er Blau und Lila. Hob er die Brauen dann wieder an, um den Druck auf die Lider zu mindern, entstanden zarte Farbnuancen von Rosa, Orange bis Gelb. Öffnete er nun die Augen, war er geblendet und sah für Mo­mente gar nichts mehr, außer ein paar funkelnder und tanzender Punkte.
Dieses Spiel konnte er sehr ausdauernd spielen, minuten­lang, wenn ihm nichts dazwischenkam. Jetzt aber war er durstig, die stickige Luft im Auto machte ihm zu schaffen. Die Lüftung funktionierte nur leidlich, obgleich sie laute, angestrengte Geräusche von sich gab. Auch durch die geöffneten Fenster kam bei diesem Stop-and-go-Tempo kaum Luft herein.
Ungeduld erfüllte ihn. Wie er sich auf ein Softeis freute, ein kühles und süßes Softeis. Und darauf, endlich auszusteigen. Lakritz stattdessen, stinkender Lakritz. So nannte er den aufgeheizten Teer auf den Straßen und die Gummiverdichtung an den Fenstern, Lakritzgeruch vermengt mit Blech und dichten Schwaden von Abgasen.
Das Auto, auf dessen Rücksitz er saß, war ein alter, rostiger R4 mit dröhnendem Motor, eingebautem Kassettenrekorder, Radio und winzigen Boxen, aus denen gerade Nenas »99 Luftballons« tönte. Seine Mutter, die vorne am Steuer saß, stellte das Radio abrupt aus – sie tat es zu schnell, als dass er noch dagegen hätte protestieren können – und legte eine Kassette ein, die sie wahllos unten aus dem Handschuhfach gegriffen hatte. Es dauerte nicht lang, und es erklang Harry Belafontes »Banana Boat Song«.
Nun, das war auch gut, fand er.
Die vor seinen Augen tanzenden Punkte kamen langsam, aber zielstrebig zur Ruhe. Die flimmernden Farbpartikel ordneten sich nach und nach, die Umrisse bekamen Konturen, und die Umgebung nahm wieder Form an, während der Wagen in der sengenden Hitze mit laufendem Motor und qualmendem Auspuff nur noch auf der Stelle verharrte.
Der Junge hielt seine Nase aus dem Fenster, um frischere Luft zu atmen. Vergeblich.
Aber was war das? Etwas bewegte sich gar nicht weit von der Straße entfernt auf der Wiese, einer graugrünen Kuhweide, die sich an eines der großen, teils violett und teils weiß blühenden Kartoffelfelder anschloss, welche die Landschaft der gesamten Region prägten – soweit das Auge reichte – und an dem sie gerade im Schritttempo vorbeigefahren waren.
Ein Kiebitz mit schwarzer Brust, weißem Bauch und nach hinten abhebender Federhaube stakste durchs Gras und durch das immer noch üppig, aber wohl nicht mehr lange blühende, ja, vereinzelt schon verblühte Wiesenschaumkraut, den Beifuß, die wilde Möhre und auch den Sauerampfer hindurch, auf des­sen Blättern er gerne kaute. Der Vogel gab schrille Schreie von sich.
Wenige Meter weiter hinten, beinahe hätte der Junge es übersehen, kauerte sein exaktes Ebenbild, aber er hätte nicht zu sagen vermocht, welches nun das Weibchen und welches das Männchen war. Was hätte er jetzt für ein Fernglas gegeben! Zur Familie der Regenpfeifer zählte diese Art, zu den Wat­vögeln, das wusste er, und es waren wunderschöne Vögel.
Ja, dachte der Junge, ein wenig Wasser würde den Wiesen und auch den Bäumen guttun in diesem ungewöhnlich heißen Juni.
»Kiju-wit, kiju-wit«, klang es zu ihm herüber, und plötzlich war das Brutpaar im hohen Gras und zwischen den Wiesenkräutern verschwunden. Sie würden sich gut zu Hause im Garten machen, dachte er noch und roch dann wieder den Teer.
Wann würde die Fahrt endlich vorbei sein, fragte er sich und bat seine Mutter um einen Schluck Wasser. Sie reichte ihm eine halbvolle grüne Glasflasche nach hinten, doch darin war nur noch eine lauwarme Brühe, die er am liebsten gleich wieder ausgespuckt hätte.
Jeden Moment würden sie die holländische Grenze errei­chen, dort konnte es auch noch einmal dauern …

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2020

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