Leselampe

2020 | KW 42

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Buchempfehlung der Woche

von Peter Korneffel

Peter Korneffel, geb. 1962 in Münster, ist Journalist, Buchautor, Kurator, Fernsehkritiker und Entwickler von Leserreisen der ZEIT. Dabei ist er Diplom-Pädagoge und ausgebildeter Kabarettist. Nach 14 Jahren als Auslandskorrespondent in Lateinamerika und Spanien lebt der Alexander von Humboldt-Experte heute in Berlin, wo er schreibt, liest und durch die Stadt führt, von wo er zu Vortrags- und Leserreisen aufbricht.

Matthias Glaubrecht
Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten
(Sachbuch), C. Bertelsmann Verlag, München 2019

Dieses Buch wiegt schwer und ist in doppeltem Wortsinn ein brandaktueller Aufschrei gegen den rasant fortschreitenden Zusammenbruch der Biodiversität. Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht belegt schonungslos das längst angebrochene neue Zeitalter, in dem der Mensch als die treibende Kraft für biologische und geologische Veränderungen auf der Erde agiert, im sogenannten Anthropozän. Eingehende Beschreibungen von der Entstehung der Menschheit, ihrer mittlerweile ungebremst wachsenden Bevölkerung, ihrem Hunger nach Rohstoffen und ihrem skrupellosen Eingreifen ins Weltklima führen den Leser zu jenem dramatischen Artensterben unserer Zeit.

Glaubrecht - Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalist - ist ein empathischer Biograf der Briten Alfred Russel Wallace und Charles Darwin in ihrem Wettlauf um die bahnbrechende wie heikle Theorie von der Entstehung der Arten. Als Dozent der Universität und Direktor des Zoologischen Museum in Hamburg kämpft er  - mittlerweile als Leibniz-Institut - um die Gründung eines "Evolutioneums" als moderne Spielart eines Naturkundemuseums an der Elbe. Sein biologisches Fachgebiet ist die Malakozoologie - Glaubrecht ist also Weichtierkundler, konkret ein "Schneckologe" mit langjähriger Feldforschung in den tropischen Binnenseen Indonesiens. Dort in Schlick und Sand hat er sich die Systematik der Evolution erschlossen, was den Text wie eine Sidestory begleitet.

Der provokante Wissenschaftsautor ist ein ausgewiesener Kritiker des Humboldt-Hypes der jüngsten Zeit, nimmt hier jedoch den Humboldtschen Naturgedanken "Alles ist Wechselwirkung" durchaus ernst. Aber er holt diesen aus seinem Schaukasten und entwickelt ihn empfindlich weiter. Vor allem legt Glaubrecht die Dynamik innerhalb der Wechselwirkung offen, die Gesetze von Entwicklung in der Natur, und er benennt dabei schonungslos Akteure und Mechanismen ihrer Störung, in Zahlen belegt. Aber auch die wallace-darwinsche "Entstehung der Arten" und das sozialphilosophische Konzept eines "survival of the fittest" belässt Glaubrecht nicht in ihren Grundformeln des 19. Jahrhunderts. Der Leser ist hierbei nicht nur Betrachter eines Schauspiels der Evolution. Er kommt nicht umhin, sich als Gestalter und Gestalteter eines, nein, dieses einen großen Naturspektakels zu entdecken.

Der hier schreibende Forscher beherrscht die pointierte wie populäre Aufbereitung komplizierter Sachzusammenhänge aufs Feinste. Vielfach machen verblüffende Beispiele es dem Leser schwer, der dämmernden Apokalypse aber auch dem Zauber der Natur zu entfliehen: "Die Zusammensetzung etwa unseres Blutes, des Schweißes und der Tränen verweist auf die mineralogische Struktur der irdischen Kruste." Solche Sätze gehen unter die Haut.

Die pazifistische Generationenfrage stellt sich heute nicht mehr wie in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg als ein "Papa, wo warst du eigentlich als ...?". Das "Ende der Evolution" ist aufs Eindringlichste verknüpft mit der "Rolle des Menschen in der Natur" und jedes Kind weiß heute, dass wir alle mittendrin sind, zumindest irgendwie. Selbst wenn uns kalifornische Suchmaschinen nahezu die ganze Welt eröffnen und erklären, bleibt ein weißer Fleck. Matthias Glaubrecht widmet sein Buch stellvertretend "den beiden Erdlingen", denen er niemals eine Frage verwehren würde und er weiß, dass sie ihn eines Tages "fragen werden, warum wir nichts unternommen haben". Seine abschließende "Rückschau auf das Jahr 2062", dann wenn der Autor hundert wird, hält – und hierin liegt ein Hauch von Hoffnung - zwei Versionen parat.

"Das Ende der Evolution" zieht den Leser zurück in die Natur. Es ist ein umfassendes ökologisches Manifest, ein Plädoyer für das Recht der Natur und taugt nicht nur ob seiner grandiosen Ausstattung als Handbuch für Planetenretter. Matthias Glaubrecht alarmiert uns mit einer scharfen, systematischen und bebenden Analyse vom Fortgang des irdischen Lebens. Mit sprachlicher Brillianz entwickelt er ein Zukunftsszenarium, in dem es beim dramatischen Sterben der Arten, wie wir es schon lange beobachten, perspektivisch nicht immer nur die anderen trifft. ENDE

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2020

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