Leselampe

2020 | KW 20

Buchempfehlung der Woche

von Tom Zille

Tom Zille ist gelernter Buchhändler und hat von 2012 bis 2019 im Literarischen Colloquium Berlin u.a. am Online-Tonarchiv Dichterlesen.net mitgearbeitet. Zurzeit wird er in Leipzig im Fach Germanistik und in Cambridge im Fach Anglistik promoviert und lebt in beiden Städten.

Marlene Streeruwitz
Jessica, 30.
(Roman), S. Fischer, Frankfurt am Main 2004.

Mit den Worten „Alles wird gut“ beginnt ein Roman, der daran natürlich bis zur letzten Seite Zweifel lassen wird. Jessica, 30. präsentiert in einem langen, in drei Kapitel unterteilten Bewusstseinsstrom ohne Punkt, dafür aber mit vielen Kommata einen Ausschnitt aus dem Leben der titelgebenden Protagonistin, der jungen österreichischen Journalistin Jessica Somner, „Issi“ genannt. Issi ist promovierte Geisteswissenschaftlerin, schreibt nun aber für eine populäre Lifestyle-Frauenzeitschrift und unterhält eine Beziehung zu dem unappetitlichen Staatssekretär Gerhard Hollitzer, einem „Fässchen“ von einem Mann, der weder emotional noch sexuell viel zu bieten hat. Es gibt eine Handlung, die sich um Issis Enthüllung eines Regierungs-Sexskandals dreht, aber vor allem geht es um das Leben als junge Frau im Patriarchat, im Bildungsprekariat und dabei noch im ÖVP-befallenen Österreich.

Als das Buch erschien, haben einige (männliche) Kritiker Marlene Streeruwitz vorgeworfen, die Doppelrolle der Protagonistin als ständig um die eigene Konfektionsgröße besorgte Lifestyle-Journalistin einerseits und feministische Vorkämpferin andererseits sei unglaubwürdig. Und doch ist mir, der ich das Buch erstmals mit Anfang zwanzig und also vielleicht im falschen Alter las, selten eine plastischere Figur entgegengetreten. Die ihr Essverhalten zwanghaft gegen sportliche Leistungen aufrechnet, die sozialen und politischen Ansprüche an die eigene Arbeit pragmatisch mit den potentiellen Karriereauswirkungen in Einklang bringt, sich im gleichen Atemzug fragt, von wem sie ihre Cellulitis geerbt hat, wo die ganzen Sexualneurosen herkommen und was in der Ehe ihrer Eltern schiefgelaufen ist; die ein Leben voller Kompromisse führt, das dennoch überhaupt nichts Banales hat. Weil wir in Wien sind, wird unterdessen alles menschliche Verhalten auf die geschlechtlichen Triebe zurückgeführt; aus dem gleichen Grund wirkt das aber eben auch vollkommen glaubhaft. Im Hintergrund spukt nicht nur Freud herum, auch Gerti Senger läuft mit. Über die Plausibilität schmieriger ÖVP-Politiker müssen wir gar nicht erst reden.

Das Ende ist so offen, wie es in einem Buch sein muss, das im Grunde endlos so weitergehen könnte, was seine Form ohnehin schon suggeriert. Aber gerade darin liegt das Hoffnungsvolle dieses einfühlsamen Romans über eine kaputte Gesellschaft: „Alles wird gut“ ist nicht Selbstbeschwörung, sondern Schlachtruf.

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2020

91