Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Rolf Lappert

Rolf Lappert ist Schweizer Schriftsteller. Am 17. August wird sein neuer Roman "Leben ist ein unregelmäßiges Verb" im Carl Hanser Verlag erscheinen.

Paul Auster
4 3 2 1
(Roman); Aus dem Amerikanischen Englisch von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl, Rowohlt Verlag, Reinbek 2017.

Was für ein Unterfangen. Was für eine Idee. Viermal die Geschichte eines Kindes und später jungen Mannes erzählen. Viermal die Biografie von Archibald Ferguson, viermal variiert. Die Abweichungen ergeben sich durch äußere Umstände, soziale Konstellationen, familiäre Ereignisse, politische und gesellschaftliche Entwicklungen und Umbrüche. Und doch, trotz der großen, dröhnenden Welt und deren Auswirkungen auf das Individuum, ist es der kleine und im Verlauf des Romans erwachsen werdende Archie, dem wir als Leser·innen folgen und an dessen Schicksal wir voller Sorge teilhaben. Und diese vier Schicksale sind wahrhaftig nicht gewöhnlich – aber, und das ist gut so, sie sind auch irgendwie normal, beinahe durchschnittlich. Da wird kein Archie Astronaut oder Nobelpreisträger, Firmengründer oder Politiker, nicht einmal reich und/oder berühmt wird der Held, der keiner ist. Scheinbar unspektakulär kommt alles daher: Wir verfolgen den viermaligen Protagonisten durch die Kindheit und Jugend, erleben erstes Verliebtsein und erste Verluste, erste sexuelle Erfahrungen und erste Schritte auf dem Weg in ein eigenständiges Leben. Wir sind bei ihm im Newark der fünfziger Jahre, begleiten ihn nach Manhattan und an die Universität, wir schwärmen für Amy und leiden mit ihm, als sie ihn verlässt, wir sind ebenso verstört wie er, als er, gerade mal fünfzehn Jahre alt, mit Andy eine homosexuelle Begegnung hat, wir lernen mit ihm, wie man als junger Journalist eine druckreife Sportreportage schreibt, wir gehen mit ihm nach Paris, wo er in einer Dachkammer zum Schriftsteller werden will, wir sind 1967 mit Archie auf dem Campus der Columbia University und demonstrieren gegen die Anwerber der Army, die Studenten zum Einsatz in Vietnam rekrutieren wollen, wir erleben mit ihm die Rassenunruhen in Newark, New Jersey, während denen Nationalgardisten und Staatspolizisten Menschen, meist Schwarze, erschießen und die Stadt in Flammen aufgeht und in Trümmer fällt, wir sind mit ihm entsetzt, als Nixon gewählt wird, wir freuen uns mit ihm, als ein Kleinverlag namens Tumult Books seine Texte veröffentlicht, wir werden (ganz am Schluss) Zeugen davon, wie Archie sich anschickt, den Roman zu schreiben, den wir in den Händen halten: »Nicht ein Mensch mit drei Namen, sagte er sich an jenem Nachmittag, der zufällig der 1. Januar 1970 war, der siebzigste Jahrestag der Ankunft seines Großvaters in Amerika (wenn man der Familienlegende Glauben schenken konnte), des Mannes, der weder Ferguson noch Rockefeller geworden und 1923 in einem Lederwarengeschäft in Chicago niedergeschossen worden war, aber aus erzählerischen Gründen würde Ferguson mit seinem Großvater und dem Witz beginnen, und sobald der Witz im ersten Absatz erzählt war, würde sein Großvater kein junger Mann mit drei möglichen Namen, sondern nur mit einem Namen sein, und zwar weder X noch Rockefeller, sondern Ferguson, und dann, nachdem er erzählt hatte, wie seine Eltern sich kennenlernten, heirateten und er selbst auf die Welt kam (alles basierend auf den Anekdoten, die er im Lauf der Jahre von seiner Mutter gehört hatte), würde er den thematischen Vorwurf auf den Kopf stellen und, statt die Vorstellung eines Menschen mit drei Namen weiterzuverfolgen, drei andere Versionen seiner selbst erfinden, deren Geschichten zusammen mit seiner eigenen erzählen (mehr oder weniger seiner eigenen, denn auch er selbst würde zu einer fiktionalisierten Version seiner selbst werden) und ein Buch über vier identische, aber verschiedene Menschen mit demselben Namen schreiben: Ferguson.«

Bei all dem Weltgeschehen, das im Buch eine Rolle spielt, ist es doch ein Roman über einen einzelnen Menschen, Archie Ferguson, und natürlich auch über das Heer aus Familienmitgliedern und Freunden, das, weil vom Autor in vierfacher Ausführung ausgebreitet, riesig ist. Nicht nur die ungeschulte Leserin verliert da fast zwangsläufig den Überblick. Wo sind wir gerade? Welcher Archie agiert hier gerade? Wer war nochmal Dan Schneiderman? Wer Vivian Schreiber? Luther? Jim? Nancy Hammerstein? Eigentlich ist es beinahe egal, wer diese Leute sind und in welchem der sich abwechselnden Ferguson-Kapitel sie auftauchen (um ihren Auftritt und ihre Funktion zu haben, später erneut zu erscheinen oder für immer zu verschwinden), denn im Grunde genommen ist der Verlust des Gesamtüberblicks über das Romanpersonal nicht etwas, das die Freude an diesem Buch schmälert – sondern sie sogar noch erhöht, denn wenn man die vier unterschiedlichen Leben als ein einziges betrachtet und sich von diesem Geschichtenstrom mitreißen, sich in seinen Katarakten durchwirbeln und in seinen ruhigen Passagen treiben und tragen lässt, wenn man sich keine Stammbäume auf Zettel zeichnet und nicht allzu verwirrt wird, weil man Namen nicht zuordnen kann, wenn man den Roman als Reise wahrnimmt, als Weg zu keinem anderen Ziel als dem des Staunens über die Kraft des Imaginären, der Bewunderung für Austers Handwerk des Erzählens und seine Fähigkeit, all diese erdachten Leben in Sprache zu fassen und den Folgen des Zufalls auf den Grund zu gehen, dann wird man das Buch nach 1259 Seiten zuklappen und sich wünschen, die Biografien der Archie Fergusons seien noch nicht zu Ende und man könnte ihnen weiterhin folgen, bis sie alt sind, mindestens so alt wie Paul Auster, 73.

Anmerkung des Verfassers dieses Buchtipps: Klickt man auf den Button »Mehr Informationen«, wird man zu Amazon weitergeleitet. Amazon ist ein Konzern, der kaum Steuern bezahlt, seine Mitarbeiter*innen ausbeutet und die Umwelt zerstört. Jeff Bezos, der Gründer des Versand-Imperiums, ist der reichste Mann der Welt und diktiert die Buchpreise im Onlinehandel. Das schadet den Verlagen und vernichtet die Existenz kleiner unabhängiger Buchhandlungen. Aus diesem Grund sollte man, wenn einem die Verlage und lokalen Buchläden nicht egal sind, die Bücher nicht bei Amazon kaufen. Gerade in dieser unsicheren Zeit, in der Corona noch immer vieles erschwert, haben kleine Buchhandlungen bewiesen, dass sie problemlos Bücher liefern können, per Post, Auto oder Fahrrad, und dies genauso schnell wie der Online-Gigant (der – zum Glück? – den Versand von Büchern als unwichtig betrachtet und vorübergehend eingestellt hat…) Ja, bei Amazon bezahlt man zwei, drei Euro weniger für ein Buch, aber wir müssen uns eben die Frage stellen, was uns Verlage und Buchhandlungen wert sind, und was wir zu verlieren drohen, wenn am Ende nur noch ein einziger Monopolist den Markt regiert.

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2020

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