Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Irina Bondas

Irina Bondas lebt in Berlin und arbeitet als freiberufliche Konferenzdolmetscherin und Übersetzerin. Auch schreibt sie. 

Wassili Grossman
Leben und Schicksal
(Roman); Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Elisabeth Markstein, Annelore Nitschke und Arkade Dorfmann, Claassen Verlag, Berlin 2007.

Der Lockdown ist ja bekanntlich die Zeit der dicken Bücher und zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, erst recht vor dem Hintergrund der aktuellen Lage, ist Wassili Grossmans Leben und Schicksal gegenwärtiger denn je.

Das Schicksal dieses Romans spiegelt die gesamte sowjetische Geschichte wider, weit über die erzählte Zeit hinaus. Unmittelbar nach dem Krieg, mitten im Stalinismus, beginnt Wassili Grossman, der als Kriegskorrespondent an der Front gedient hat, die Arbeit an seiner Stalingrad-Diologie. Eine Veröffentlichung wird erst in der Tauwetterperiode überhaupt denkbar, doch der KGB beschlagnahmt 1961 bei einer Durchsuchung das Manuskript und es erscheint lange nach Grossmans Tod, während der Perestroika. Heute gilt Grossmans Opus magnum als ein Klassiker der russischen Literatur, gewissermaßen ein „Krieg und Frieden“ des 20. Jahrhunderts.

Mit der Schlacht von Stalingrad als Dreh- und Angelpunkt werden zahlreiche miteinander verbundene Schicksale an der Front und im Hinterland ausgeleuchtet. Für die spätsowjetischen Leser·innen war dabei eine der eindrücklichsten Leseerfahrungen, wie die Grenzen zwischen sowjetischen Arbeitslagern und deutschen KZs, zwischen stalinistischen Massenrepressionen und nationalsozialistischer Rassenlehre verschwimmen. Der integre und empathische Blick bei spürbarer Loyalität der Sowjetunion gegenüber macht dieses Buch besonders aufschlussreich für das Verständnis der europäischen Vergangenheit – und so gefährlich für jedes Dogma. Grossmans Panoptikum fängt die Universalität sowohl von totalitären Systemen als auch vom menschlichen Wesen ein. Gerade die alles durchdringende Humanität, der bewusste Fokus auf das Menschliche, in jedem Gedanken und jeder Geste seiner Figuren, lassen diesen Roman so außerordentlich lebensecht erscheinen. Und nach zahllosen Konferenzen, Forschungsarbeiten und Filmen geschieht hier etwas Wundersames: ich lese die Geschichte des Zweiten Weltkrieges wie zum ersten Mal.

Die in die unterschiedlichsten Lebenssituationen hineingeworfenen Figuren und jede noch so periphere Episode verdeutlichen, wie Menschen in Extremsituationen – jenseits ideologischer Grenzen – den Fremden nahe kommen und den Nahen fremd werden können, wie schwer und einfach es zugleich ist, Verantwortung zu tragen. Leben und Schicksal zeigt, dass für die Freiheit des Wortes Bedingungen geschaffen und immer wieder erkämpft werden müssen, während die Freiheit des Menschen darin besteht, innerhalb der gegebenen Bedingungen den eigenen Handlungsspielraum zu erkennen.

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2020

91