Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von PalmArtPress Verlag (Berlin)

PalmArtPress Verlag hat das Ziel, kulturelle Vielfalt und internationalen Austausch zu fördern. Ein markantes Merkmal hierbei ist die experimentierfreudige Verbindung von Literatur, Kunst und Kultur. Das interkulturelle Programm umfasst neben deutsch-und englischsprachiger Literatur auch Theater, Kunst und Philosophie.

Auch dieses Jahr macht es sich Palm Art Press zur Aufgabe, bewegende Themen des Wandels in seinem Programm zusammenzufassen. Dass hierbei der aktuelle Zeitgeist so treffend verbildlicht wird, konnte in der Planung noch niemand ahnen. Und dennoch ziehen die Aspekte der Transformation durch die Werke der Autoren. Das, was unsere Gesellschaft aktuell beschäftigt, findet Gehör. So liegt ein Fokus auch auf der Gemeinschaft, dem Zusammenhalt. Ein wesentlicher Aspekt spielt dabei auch der Hoffnungsgedanke, der uns wie ein Anker Halt schenkt in den Zeiten des Umbruchs. 

Frederic Wianka
Die Wende im Leben des jungen W.
(Roman); PalmArtPress Verlag, Berlin 2020

Im dreißigsten Jahr der deutschen Wiedervereinigung legt Frederic Wianka, welcher selbst in der DDR aufgewachsen ist, mit seinem Werk Die Wende im Leben des jungen W. bei PalmArtPress sein herausragendes Romandebüt vor. Die historischen Ereignisse im Jahr 1989 sind die Eckpfeiler eines Wandels, der sich vielmehr in einer Auseinandersetzung mit der inneren Gefühlsweltwelt des Protagonisten zeigt, als in den historischen Geschehnissen.

Der Protagonist, ein erfolgreicher Maler und Bildhauer, erinnert sich in einem Brief, gerichtet an seinen Jugendfreund Ingo, an das eigene Heranwachsen in der DDR, an die gemeinsam erlebte Zeit, an den Bruch der Freundschaft aufgrund eines ungeheuerlichen Verdachts. Er schildert seine Flucht nach Berlin, die Stadt, die niemals bloß ist, die immer nur wird; eine Flucht, die vor dem Ereignis des Mauerfalls verspätet erscheint. Zu spät für ihn?

Wie Goethes Die Leiden des jungen Werther ist auch Die Wende im Leben des jungen W. ein Briefroman. In der sprachlichen Variabilität erinnert Frederic Wiankas Stil an Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W..
Dabei schafft es der Autor, seine ganz eigene poetische Form des Lebensberichts zu erschaffen. Die Bedeutung trivialer Handlungen liegt in der unmittelbaren Beobachtung, in der pointierten und gleichzeitig doppelbödigen Beschreibung dessen, was einmal wichtig gewesen sein wird. Ziellos scheint die Reise des Protagonisten durch verschiedene Orte in Deutschland und Ungarn, festgesetzt wirkt gleichsam sein Schicksal. Darüber hinaus spiegeln sich zahlreiche Rückgriffe auf die (Literatur-)Geschichte Deutschlands in Andeutungen und dem beigefügten Glossar für DDR-Vokabeln wider.

Die Wende im Leben des jungen W. reflektiert Begriffe, die eine ganze Generation geprägt haben und die besonders heute durch ganz andere Geschehnisse wieder aktuell geworden sind: Was bedeutet „Flucht“, wenn es keine Heimat mehr gibt? Und was ist „Scheitern“ für einen Menschen, der sich von allen Möglichkeiten abgesondert sieht? Der Text stellt Fragen, die unbeantwortet nachhallen, knüpft so an seine berühmten Vorbilder an und wirft einen neuen Blickwinkel auf das weite Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft heutzutage.

Auszug aus dem Roman: „Ausflügler ziehen in Gruppen zu beiden Zielen. Keiner geht den gleißenden Weg aus weißem Schotter allein. Ich sehe ein überlaufenes Wandererbild einer ungetrübten Romantik, ein Panorama der Erholung zwischen eine Seilbahn und eine Hütte gezwängt, zwischen kurzer Auf- und Abfahrt, zwischen zwei lange Wochen. Darüber wird Protokoll geführt. Klickende Apparate vor dem Gesicht zur eigenen Erinnerung, die ferne Welt im Detail erfassend. Oder knipsende Spielzeuge am ausgestreckten Arm für den Rest der Welt, mit dem Rücken zur Welt, in der Erwartung, dass einer begrenzten Optik ein In-Ihr-Sein gelingt.“ (S. 323)

Frederic Wianka wuchs in Potsdam und Schwerin auf und studierte nach der Wende in Berlin Geschichte, Politikwissenschaften und Soziologie. In seinen Texten befasst sich Wianka mit den Erfahrungen aus zwei Systemen, den Instrumentalisierungen, denen das Individuum in beiden unterworfen ist, der beinah zwingenden Unvereinbarkeit von Prägung und aktueller Realität. „Sozialisiert für ein System, das es auf einmal nicht mehr gab“, heißt es in seinem Roman. Erste öffentliche Lesungen erfolgten 2009 neben Bernd Cailloux, Daniela Dahn, Natascha Wodin, Judith Schalansky u.a. bei der Lesereihe „Schöneberg liest“. 2010 gewann er den Günter Bruno Fuchs Literaturpreis. Die erste Veröffentlichung erfolgte in der Reihe Einblattdrucke unter dem Titel Ich traf sie spät vor dem Park, PalmArtPress Berlin, Nr. 129, 2019. 

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