Leselampe

2020 | KW 19

© René Löffler

Buchempfehlung der Woche

von Moritz Gagern

Moritz Gagern ist freischaffender Komponist und Autor und lebt zur Zeit in Rom.
Seit dem 5. März hat er mit Gespenst Corona einen Lockdownblog geführt. Mit dem zweiten Teil Im Virusvakuum, der am 4. Mai endet, ist sein sechzigtägiges Quarantänetagebuch nun abgeschlossen. 
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Robert Walser
Der Spaziergang
Mit 16 Holzschnitten von Christian Tannhäuser und einem Nachwort von Michail Schischkin, Insel Verlag/ Insel-Bücherei 1449, Berlin 2018 (EA: Huber Verlag, Frauenfeld/Leipizg 1917).

Spaziergänge sind verboten, solange die Absicht nur darin besteht, außerhalb des Hauses Zeit zu verbringen. Darauf hat unter anderem das Polizeipräsidium der norditalienischen Stadt Alessandria am 4. Mai 2020 hingewiesen. Man muss dem Polizeibeamten beweisen können, dass man aus einer dringenden Notwendigkeit heraus spazierengeht, sonst ist das Bußgeld für die Verletzung der Anti-Corona-Maßnahmen fällig.

Wer beweisen muss wie dringend er spazierengeht, gerät zwischen Bürokratie und Literatur, laviert zwischen den Gesetzen der Bohème und der Bürgerlichkeit. Ein Standardwerk zu diesem Thema hat Robert Walser 1917 geschrieben. „Der Spaziergang“ ist das Selbstportrait eines Einzelgängers, abwechselnd ausschweifend und dicht, wie immer bei Robert Walser die erste unredigierte Fassung. Es macht Spaß und ermüdet, den entschiedenen Schweizer auf seinem Heimatspaziergang zu begleiten. Walsers Schreibweise ist schonungslos gegenüber sich selbst und dem Leser. Wenn er zensiert, dann in Echtzeit. Einer Passage, die ihm beim Schreiben polemisch oder emotional vorkommt, lässt er höfliche Entschuldigungen und Erklärungen folgen. Er ist das Gegenteil eines Computer-Schriftstellers. Dichten endet bei ihm in der schutzlosen Tätigkeit des Aufschreibens in Echtzeit. Ein Kompromissloser, der sich zugleich als Lokalautor zu verstehen vorgibt.

Der Autor brütet an einem „schönen Vormittag“ gegen Ende des Ersten Weltkriegs mit „Trauer“, „Schmerz“ und „schweren Gedanken“ über einem leeren Blatt Papier, was weder am Krieg noch an der Spanischen Grippe zu liegen scheint. Der Krieg fährt einmal in der Mitte des Textes im Zug vorbei, der Erzähler muss kurz warten, bis die Schranke sich wieder öffnet. Anfangs sitzt er noch in seinem „Schreib- oder Geisterzimmer“, als ihn die „Lust, einen Spaziergang zu machen“, überkommt. Schon ist er auf der Straße und das leere Blatt füllt sich mit den Bürgern, die ihn „um gefällige Erwähnung bitten“ und meistens ihm auch ein kleines Urteil entlocken, nah und fern wie Passant und Flaneur sich eben sind. Der Spaziergang ist der Text und der erläuft sich selbst ab dem ersten Satz, als der Autor dem Leser „mitteilt“, dass er den Hut aufsetzt und losgeht. Das Territorium ist abgesteckt: es ist der Schreibende selbst.

Dass der eingeschlagene Weg seine Autonomie beansprucht, expliziert Walser fast trotzig. „Ich wittere etwas von einem Buchhändler und einem Buchladen.“ Er geht weiter und „ahnt“, wer als nächstes „zur Erwähnung und Geltung gelangen“ möchte, wer alles „nicht unbeachtet und unaufgezeichnet bleiben“ darf: „denn er ersucht mich um gefällige Erwähnung“. Die Nebendarsteller, die er als „Personen, Gestalten oder Figuren“ bezeichnet, „machen sich bemerkbar“, „fallen auf“, sie „bitten den Verfasser sehr ergeben, sich vor tatsächlich überflüssigen Spötteleien und Föppeleien zu hüten“. Die Stippvisite im Buchladen verdeutlicht das Verhältnis des Textes zum Autor und das des Autors zum Buchmarkt, den er später mit einer Schlacht vergleicht und dessen Wertungen keine Schnittmengen mit seinen eigenen aufzuweisen scheinen. Der anschließende Besuch bei der Bank gibt einen kleinen Einblick in sein ewiges Prekariat, in seine isolierte, aber nicht ganz anonyme Lebenssituation, wozu auch eine Einladung zum Mittagessen gehört, die eine Leserin ihm für diesen Tag hat zukommen lassen. Der aus der literarisch brummenden „Welt- und Hauptstadt“ Berlin zurück ins ruhige Biel geflüchtete Autor spaziert vorfreudig los und zeigt sich sogleich „entrüstet“ angesichts eines neureich protzigen Schriftzugs einer Bäckerei. Weil man hochwertige Ladenlettern von 1917 heute als aufwertend verbuchen würde, weiß man stellenweise fast nicht zu sagen, wie ironisch der Text ist. Walser beschrieb mit Vorliebe das von technischem Zeitgeist unberührte Szenario seiner Heimat. Man nimmt ihm ab, sich über jede Veränderung, die aus Privatinteresse geschieht, über jedes Aufschneidertum zu ärgern. „Zum Teufel mit der miserablen Sucht, mehr zu scheinen, als was man ist.“ Er kann sich diesen Satz verrückterweise und auch traurigerweise leisten. Denn es scheint: ganz ohne falschen Glanz bleibt dem Leben fast gar kein Glanz. Dem Text schon.

Der dem Leben am liebsten gehend begegnende Schriftsteller thematisiert sich selbst implizit und explizit. Streckenweise handelt es sich um eine regelrechte Apologie des Spazierengehens und des Robert-Walser-Seins. Das Zufußgehen ist Selbstzweck und Teil seines Berufs zugleich, läuft aber immer Gefahr, von außen als sinnlos eingestuft zu werden. Spielende Kinder lösen mehrmals eine Sehnsucht aus, genauso wie die jugendliche Sängerin, die gelassen seine Projektionen hinnimmt, eine ehemalige Schauspielerin, die ihm mitteilt, nie Schauspielerin gewesen zu sein, lässt einen seiner vielen Berufswünsche anklingen, ein lichtschluckender Riese taucht auf und wird wie ein vertrauter eigener Dämon des Feldes verwiesen. Schritt für Schritt schreibt sich das Selbstporträt selbst, dazu gehört auch das Innehalten, zum Beispiel nachdem er erfolgreich der Versuchung einiger Wirtshäuser widerstanden hat, weil das Verhältnis zwischen bereits vollbrachter Wegstrecke und den Konsequenzen eines Wirtshausbesuchs noch nicht stimmt: „Hier habe ich mich wieder einmal neu zu orientieren.“

Wörtlich nah kommt er der in der französischen Literatur erst dreißig Jahre später aufkommenden „dérive“, wenn er sich von außen sieht: „Indem ich wie ein besserer Strolch, feinerer Vagabund und Tagedieb oder Zeitverschwender und Landstreicher so des Weges ging, neben allerlei mit zufriedenem, behaglichem Gemüse vollbepflanzten und vollgestopften Gärten vorbei“ - es folgt eine Aufzählung, bei der das Wörtchen „vorbei“ noch weitere sieben Mal vorkommt, bis er endlich feststellt, wie zwangsläufig genau dieses Vorbeistreifen zu „Einfällen, Lichtblitzen und Blitzlichtern“ führt. Seine Formulierungen schweifen aus wie die Wege eines Kindes, entsprechend schmäht er das Auto. Der virtuose Fußgänger offenbart eine Verwandtschaft zu Erik Satie, sein inventarischer „Spaziergang“ entschleunigt die Literatur und ignoriert ihre Notstandsverordnungen.

Ein Steuerbeamter möchte noch erwähnt werden. Er hält den mittellosen Erzähler für wohlhabend und bittet ihn zur Kasse. Was der Steuerpflichtige dem „Herrn Taxator“ seitenweise zu Protokoll gibt, behandelt die professionelle Notwendigkeit des Spazierengehens, sollte man aber auch dann parat haben, wenn man im Mai 2020 in eine Kontrolle gerät.

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