Leselampe

2020 | KW 25

© Silviu Guiman

Buchempfehlung der Woche

von Deniz Ohde

Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie auch lebt. 2016 war sie Finalistin des 24. open mike und des 10. poet bewegt Literaturwettbewerbs, 2017 Stipendiatin des 21. Klagenfurter Literaturkurses. 2019 stand sie auf der Shortlist für den Wortmeldungen-Förderpreis. Im August 2020 erscheint ihr Debütroman Streulicht im Suhrkamp Verlag.

Esther Kinsky
Sommerfrische
(Roman), Matthes & Seitz, Berlin 2009.

Wenn es Sommer wird, bekomme ich immer den Drang auch Bücher zu lesen, die sich um den Sommer drehen. Als müsste ich ihn von allen Seiten zusätzlich zu der wirklichen Erinnerung noch einpolstern in literarische, bevor er wieder vorbei ist. Wer den Großteil seiner Sommer in deutschen Kleingartensiedlungen und Freibädern verbracht hat, kennt vielleicht diesen sehr spezifischen Eindruck aus Pommes-Rot-Weiß und Nivea-Sonnencreme-Geruch, der einen sofort in einen schweren nostalgisch-melancholischen Zustand stürzen kann – in Esther Kinskys Debütroman Sommerfrische von 2009 treffe ich den Sommer als diese bekannte Größe, nach der ich jedes Jahr suche, und gleichzeitig nimmt er mich mit in ein für mich unbekanntes Gebiet: die ungarische Feriensiedlung üdülő, wo die Menschen sich vor der drückenden Hitze der heißesten Tage in ihre Lauben flüchten.

Sommerfrische ist ein schmaler Band, in dem nicht viel „passiert“: eine Fremde dringt in den immer gleichen Jahreszyklus der Siedlung ein, Antal verlässt für sie seine Familie, trotzdem scheint alles gleich zu bleiben. Der Schrotthändler und Kneipenbesitzer Lacibácsi leistet sich einen „Swimmingpull“, eine Attraktion für die ärmliche Gegend. Die Hauptrolle spielt aber Esther Kinskys schöne Sprache und ihre Beobachtungsgabe. Idyllisch ist die Gegend dabei nicht wirklich. Die Lauben sind selbst aus dem Boden gestampft und etwas heruntergekommen, Lacibácsi steht am Rande in seinem Hof und wartet auf die Kranwägen, die nahegelegenen Flüsse können plötzlich über die Ufer treten und zu einer tödlichen Gefahr werden, „wie Schlangen“, sagen die Bewohner, und damit wird die Landschaft selbst zu einer Kreatur, die man nicht wieder vergisst. Dabei erzählt Esther Kinsky in ihren schönen Bildern auch die Orientierungslosigkeit der Leute mit, die üdülő bewohnen, ihre Arbeitslosigkeit nach den politischen Umbrüchen der frühen Neunzigerjahre; Kinsky macht diese geschichtlichen Begebenheiten zu etwas sinnlich Erfahrbarem

Wer also diese ganz bestimmte sommerliche Schwermut sucht, wird sie in Sommerfrische finden und darüber hinaus in die ganz dem üdülő eigene Lebenswelt eintauchen.

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2020

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