Leselampe

2020 | KW 26

© Marvin Zilm

Buchempfehlung der Woche

von Donat Blum

Donat Blum hat am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut studiert. Er schreibt Prosa und pendelt zwischen der Schweiz und Berlin. Im August 2018 ist sein Debütroman «OPOE» bei Ullstein Fünf erschienen.
Er ist Mit-Initiator und Veranstalter der Reihe Skriptor an den Solothurner Literaturtagen, Mit-Organisator der Werkstattgespräche Teppich im Literaturhaus Zürich sowie Gründer und Mit-Herausgeber der Literaturzeitschrift Glitter. 

Ocean Vuong
Auf Erden sind wir kurz grandios
(Roman); Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag, Carl Hanser Verlag, München 2019

Ein Buch, das sich aus vielen Gründen zu lesen lohnt, aber vor allem wegen den zwei bahnbrechendsten Sexszenen, die mir in den letzten Jahren untergekommen sind: On Earth We’re Briefly Gorgeous von Ocean Vuong. Gelesen in der us-amerikanischen Originalfassung. Die deutsche Übersetzung hinkt in der sprachlichen Feinheit leider deutlich hinterher. Gerade in den Sexszenen.

Vuong erzählt die Geschichten des Sohnes einer vietnamesischen Einwanderin, dessen Mutter und Grossmutter. Die Geschichte einer Kindheit und Jugend am Rande der US-amerikanischen Gesellschaft und einer sich schleichend immer bemerkbarer machenden, fremdzugeschriebenen Entwurzelung. Er erzählt die Geschichte einer von Frauen geprägten Familie, eine Geschichte ausserhalb der weissen Heteronormativität und findet Worte, ungesehene Sätze und Bilder für queere Identität, ohne die poetische Sprache einer analytischen zu opfern.

Es ist eine lyrische Suche, eine sprachfokussierte, die aber die Realität und das Dokumentarische nie aus dem Blick verliert und ihre Höhepunkte in zwei Sexszenen findet, die durch ihre Vielschichtigkeit sowohl poetische als auch gesellschaftliche Grenzen sprengen: Grenzen von Scham, Erzählbarkeit und Tabuisierung.

«Something took over and I told him to do it harder. And he did. He lifted me nearly off the bed by the roots of my follicles. With each slam, a light turned on and off inside me. I flickered, like a bulb in a storm, seeking myself in his steering.»

Für die Queerness des Buches musste Vuong kämpfen. Vom Literaturbetrieb wurde ihm geraten, dem Markt zuliebe, darauf zu verzichten. Auch in den USA geistert die Vorstellung durch die Verlage und Agenturen, queere Themen gingen nur Queers etwas an. Das Romandebüt des Lyrikers Vuong widerlegt das ein weiteres Mal. Es spielt für die Lesbarkeit, die Nähe und Präzision keine (abträgliche) Rolle, dass hier ein Mann vom Sex zweier Männer schreibt. Vuong gelingt es, universal zugänglich über die Begegnung zweier Individuen zu schreiben, ohne dabei die Gesellschaft auszublenden, die die beiden jungen Männer prägt und marginalisiert – die sie auffordert, ihr Lieben und Begehren zu unterdrücken. Das Buch ist gleichzeitig Emanzipationsakt, politisch, Reportage und Gedichtband.

«His cock, touched at the tip with the dark inside me, pulsed under the lamplight as it softened. I was, in that moment, more naked than I was with my clothes off – I was inside out. We had become what we feared most.»

Über vier Seiten beschreibt Vuong, wie der Ich-Erzähler mit seinem ersten "Freund" Trevor schläft, – einem modelgültigen Redneck, der auf seine Art und Weise mit seiner Homosexualität ringt und mit dem er trotzdem immer wieder gelöste Momente des Glücks findet. Plötzlich steigt ihm ein scharfer Geruch in die Nase – «A scent rose up to my head, strong and deep, like soil, but sharp with flaw" – und der Protagonist weiss sofort, was passiert ist. Überzeugt, dass es seine Schuld ist, erwartet er, dass ihn Trevor nun schlagen und bestrafen wird, aber im Gegenteil, er bringt ihn zu einem Bach, wo sie sich waschen und Trevor ihm seine Hand in den Nacken legt «and we stood, quiet for a moment, our heads bent over the river’s black mirror

Vuong versteht es auf beeindruckende Weise die Ambivalenz von verinnerlichter Abwertung der eigenen Sexualität und dem Hochgefühl der Verschmelzung zu fassen. Er erzeugt eine erotische Spannung, unter anderem, weil er die Scham nicht mit pornographischer Sprache übertönt. Im Gegenteil, er gibt der Scham Raum durch Zuwendung und packt sie so an der Wurzel: bei der Gesellschaft, die schwulen Sex als schmutzig abtun will, obwohl er selbstverständlich nicht «schmutziger» ist als Sex ganz allgemein – auch heterosexueller. Vuong schafft es in einer einzigen Szene das Stigma zu benennen und zu überwinden. Etwas, das vielen Menschen ein Leben lang nicht gelingt, weil die Gesellschaft mittels Scham alles sanktioniert, was vermeintlich «nicht normal» ist und so das Gespräch darüber verhindert. Eine verinnerlichte Tabuisierung, die alle Menschen – egal ob hetero-, homo, bi- oder pansexuell – aus dem eigenen (Sex-)leben bestens kennen dürften.

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2020

91