Leselampe

2020 | KW 13

© Graham Hains

Buchempfehlung der Woche

von Aurélie Maurin

Aurélie Maurin wurde 1975 in Paris geboren und lebt seit 2000 in Berlin als Kuratorin, Literaturübersetzerin (u.a. Thomas Brasch, Thomas Rosenlöcher) und Herausgeberin (u.a. VERSschmuggel, la mer gelée). Sie leitet aktuell das TOLEDO-Programm des Deutschen Übersetzerfonds, für das sie u.a. die Reihen Journale und Cities of translators sowie das internationale Lyrikübersetzertreffen JUNIVERS initiierte. Sie ist auch Musikerin.

Jakuta Alikavazovic
Das Fortschreiten der Nacht
(Roman); Aus dem Französischen von Sabine Mehnert, Edition Nautilus, Hamburg 2019

... ich hingegen glaube, das ist eine Frage der Sprache, eine Frage von Geschichten, die uns
eingeimpft werden wie Viren, wie Antikörper, durch das, was gesagt wird – oder nicht gesagt wird.

S.51

Gern hätte ich den Roman Das Fortschreiten der Nacht am 16. März mit der Autorin und ihrer Übersetzerin Sabine Mehnert präsentiert, doch Corona kam uns zuvor:
Es war die allererste der LCB-Veranstaltungen, die abgesagt werden musste, und damit der Beginn einer Reihe von Geisterprogrammen. Ausgerechnet Jakuta Alikavazovic, Meisterin des Unheimlichen, des Verschwindens, bei der jedes Wort zum Phantomschmerz wird.
Das Fortschreiten der Nacht ist ein Roman über Liebe in Zeiten zunehmender Angst. Ausgangspunkt ist die Begegnung zweier Menschen, die alles trennt und die doch eine gemeinsame Sprache für sich erfinden - Paul, ein Banlieusard aus armen Verhältnissen, und Amélia, Tochter eines reichen Vaters und einer Mutter, die während des jugoslawischen Krieges zurück in ihre Heimat ging.
Erst in Vorbereitung auf das Gespräch, mitten im Fortschreiten der Pandemie, fiel mir auf, welche große Rolle Ansteckung in dem Buch spielt, sie ist ein wirkliches Leitmotiv: Angefangen bei der Verbreitung von Viren durch Luftübertragung, Infektionen über Körperkontakt bis hin zur Vererbung von Psychosen und Kriegstraumata über Generationen hinweg.
Das Buch zeichnet sämtliche Übertragungsformen der Angst nach - in Nah und in Fern - aber auch ihre Abwehrstrategien. Ja, es gibt Hoffnung auf Heilung, und eine Menge Sinnlichkeit und Humor. Selten wird erwähnt, dass Jakuta Alikavazovic die Übersetzerin von David Foster Wallace und von Ben Lerner ist, der perfekte Cocktail aus Verzweiflung und Gnadenlosigkeit mit einem Schuss Ironie.
An dieser Stelle möchte ich auch die Arbeit der Übersetzerin Sabine Mehnert hervorheben, die all diese Ingredienzen nächtlichen Rausches neu abgemischt hat und diese Heilmittel an die deutschsprachige Leserschaft weiterreicht.

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2020

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