Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Márta Nagy

Márta Nagy hat in Szeged und Tübingen Geschichte, Germanistik und Latein studiert. 1996–2005 unterrichtete sie Germanistik an der Péter-Pázmány-Universität in Budapest, 2006–2018 war sie als Beauftragte für das Kulturprogramm am Goethe-Institut ebendort tätig. Seit Oktober 2018 leitet sie das Collegium Hungaricum Berlin.

László Darvasi
Wintermorgen
(Novellen); Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016 (auch als eBook erhältlich).

Auf meinem Nachttisch liegen immer ein halbes Dutzend Bücher, die ich gerade lese, gelesen habe oder gerne wiederlesen würde. Zur Zeit gehören zu ihnen u.a. Judith Kuckarts Kein Sturm, nur Wetter (Dumont 2019), Eugen Ruges Metropol (Rowohlt 2019), Anna Teréks Gedichtband Tote Frauen (KLAK 2020) oder die Erzählungen von Zsófia Bán (Der Sommer unseres Missvergnügens, Matthes und Seitz 2019). Und am liebsten würde ich sie alle empfehlen. Ich nehme also ein Buch aus dem Stapel: eines für alle.

László Darvasi gehört für mich zu den spannendsten Gegenwartsautoren Ungarns. Vielleicht auch deshalb, weil seine Lebenserfahrungen sich in vielem mit meinen Erfahrungen teilen. In stark verdichteter, fast magischer Sprache erzählt er Geschichten aus einer unheimlich-absurden Welt, irgendwo zwischen Traum und Realität, wo die (eigene) Vergangenheit keinen loslässt und die Zukunft einem kaum Hoffnung gibt. In dieser Welt geht es gnadenlos, böse, ja grausam zu. Alles ist schmerzlich und bitter; und dennoch oder gerade darum sehr menschlich. Darvasi baut sein verzaubertes Universum so raffiniert auf, dass man nie merkt, wann und warum das Reale ins Groteske, das Fantastische ins Brutale umkippt. Die Geschichten und ihre Figuren bleiben lange im Kopf erhalten. In der Erzählung Der Sturz (mein Lieblingstext im Band) taucht kurz ein surrealer Dorfarzt auf, von ihm heißt es: „Der Doktor war ein tatkräftiger Mensch, sogar in betrunkenem Zustand. Darin glich er dem Schicksal, er wusste selten, was er tat, doch er tat es.“

Wintermorgen wurde 2019 mit dem Internationalen Literaturpreis „Aleksandar Tišma“ ausgezeichnet. Heinrich Eisterers Übersetzung lässt sich ebenso „natürlich einatmen“ wie das ungarische Original.

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2020

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