Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Pieke Biermann

Pieke Biermann - seit 1976 im „gemischten freien Schreibwarenhandel“ als Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin. Übersetzungen aus dem Italienischen und Englischen (u.a. von Stefano Benni, Andrea Bajani, Dacia Maraini, Agatha Christie und Dorothy Parker). Ihre Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet, z.B. dreimal mit dem Deutschen Krimipreis. Für ihre Übersetzung des Romans Oreo der Autorin Fran Ross aus dem amerikanischen Englisch wurde sie in diesem Jahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt. 

Odile Kennel & Stephanie Haerdle
Hors Texte & Spritzen. Geschichte der weiblichen Ejakulation.
(Gedichte), Mit Illustrationen von Martina Liebig, Verlagshaus Berlin, Berlin 2019 & Nautilus Flugschrift, Edition Nautilus, Hamburg 2020 (ISBN 978-3-96054-215-5).

Im Netz verfängt sich derzeit auch ein drolliger Wust aus Tipps zur Gesunderhaltung der Libido: Jemand* empfiehlt jetzt bitte besonders viel Sex – ein Orgasmus verballert zwar kaum Kalorien, stärkt aber das Immunsystem. (Lachen übrigens auch.) Andere machen sich Sorgen um eventuell krachende Beziehungskisten und raten zu Sexspielzeug "für Paare", komischerweise vor allem brav-binär sortierte. Bei Pornoportalen sind angeblich die Leitungen kurz vorm Kollaps. Und so weiter. Für alle, die's – warum auch immer – grad nicht soooo direkt-physisch mögen/können/dürfen, bleibt was? Ein Buch zum Beispiel!

Ein Buch? Wer kommt denn beim L(i)eben in Zeiten der Corona mit einem Buch aus? Oder überhaupt? Also, ich nicht. Man braucht B.Ü.C.H.E.R. Und man weiß noch nicht mal, wie lange die antivirale Körperdistanz-Periode anhält. Rom ist schließlich auch nicht an einem Tag gezeugt worden, allenfalls Romulus. Plural also. Ich fange mal mit dem kleinsten Plural an und empfehle hier zwei Bücher, mit denen sich die coronare Kevin-Phase lustvoll, um nicht zu sagen flüssig überleben lässt. Zwei Allein-zu-Haus-Freudenmacher, sozusagen, beide noch ziemlich frisch, beide um ein Thema swingend, das viel zu lange in "dieser unserer" offiziellen Kultur vertrocknen lassen wurde: weibliche Lust.

Das eine ist ein zierliches Quartheft aus dem Verlagshaus Berlin, HORS TEXTE – Gedichte von Odile Kennel mit Illustrationen von Martina Liebig. Die Durchstreichung ist Absicht. Odile Kennels "Texte" gehen sowohl weit über Text hinaus als auch tief in das hinein, woraus Text gemacht ist: Wörter, Konsonanten, Vokale. Sie nehmen Wörter als Körper, horchen sie aus, betasten sie mit Fingerspitzen oder der flachen Hand, lutschen daran wie an buttergetunkten Spargelstangen oder aufgeklappten Granatäpfeln. Und legen dabei – zum Beispiel in dem Gedicht und kannst du auch was mit pornographie? mit der Frage: "wie kann man in einer sprache sex haben die keine drei brauchbaren wörter für sexualorgane kennt" – mal wilden Witz frei (s.o. Lachen & Immunsystem), mal ziehen sie schwindelerregende Klangkörper-Spiralen – wie in au fond de moi  in gleich mehreren Sprachen. Odile Kennel lebt täglich darin. Sie übersetzt auch.

Das andere ist eine knapp 300-seitige "Flugschrift" aus der Hamburger Edition Nautilus: SPRITZEN. GESCHICHTE DER WEIBLICHEN EJAKULATION. Stephanie Haerdle hat in jahrelanger Klein- und Sammelarbeit zusammengetragen, was es an – ja, doch! – jahrtausendelangem Wissen plus Verdrängung, Bekämpfung, Verächtlichmachung zum love juice zu finden gibt. Von den altchinesischen, altindischen, antiken griechischen, jüdischen und mittelalterlich-europäischen Kulturen, wo auch immer der "Freudenfluss" noch freudig gefeiert wurde, bis zur vermeintlich emanzipationsfreundlichen "Verwissenschaftlichung" der Geschlechterverhältnisse. Wir alle wissen, wohin uns die bis heute gebracht hat, auch Sigmund sei freudloser Dank. SPRITZEN ist prall-satt an Wissen und trotzdem (oder deshalb?) wollüstige Lektüre, und ich werd'n Deibel tun und hier mehr zitieren als Stephanie Haerdles eigenen Lockruf: "Rollen wir den roten Teppich aus für nasse Betten, feuchte Orgasmen und die Femmes-Fontaines." Übrigens egal, wes Geschlechtes Kind wir (gerade) sind, sein sollen, zu sein versuchen. Enjoy!

* das Sternchen erscheint hier nur einmal und bedeutet: Hier sowie bei allem, was an mehr oder weniger eindeutigen generischen Masculina folgt, bitte immer im Hinterkopf "allerlei Geschlechts" dazufügen! Mir sind sämtliche gender gags zu binär, ich bin aus Analogistan gebürtig und meide Binäres, wo immer es geht.
 



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