Leselampe

2020 | KW 20

© Mick Vincenz

Buchempfehlung der Woche

von Delphine de Stoutz

Delphine de Stoutz, geboren 1976 am Genfersee, lebt als Schriftstellerin und Bühnenautorin in Berlin und Genf. Ihr Debütroman »Adult (R)« erschien 2018 im Verlag Lucane Éditions. Sie ist die Gründerin und Vorstandsmitglied der Gruppe D*après**elles, Netzwerk französischsprachiger Autor·innen in Berlin e.V.

Neben Ani Menua (Armenien/Berlin), Brygida Helbig (Polen/Berlin) und Elsye Suquilanda (Equador/Berlin) ist sie eine der vier internationalen Berliner Autorinnen, die am 15. Mai ab 13:00 Uhr bei der digitalen Spezial-Ausgabe der *PARATAXE presentations* der Berliner Literarischen Aktion in Kooperation mit dem LCB zunächst in einem einführenden Gespräch (als Audio-Podcast) vorgestellt werden und dann anschließend in einem Home-Video ausgewählte Texte lesen.

Georges Pérec
Versuch einen Platz in Paris zu erfassen
Aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung von Tobias Scheffel, Libelle Verlag, Konstanz 2010 (EA: Christian Bourgois, Paris 1975).

Als ich vor ungefähr zwei Jahren meine Bibliothek neu sortierte, stellte ich fest, dass nur 10% meiner Bücher von Autorinnen geschrieben wurden. Da traf ich die „radikale“ Entscheidung, meine zweite Lebenshälfte als Leserin damit zu verbringen, NUR noch von Frauen geschriebene Bücher zu lesen. Ich hatte bereits mehr als genug Zeit mit Autoren verbracht. Daher wäre es von mir nur konsequent, heute eine Autorin vorzustellen. Bei der „Leselampe“ habe ich die Wahl, über ein Buch zu schreiben, das ich in dieser „Zeit der Beschränkung“ lese oder über ein Buch, das mich schon immer begleitet hat. Meine Wahl fiel auf die zweite Option, denn Schreiben und Lesen ist in dieser besonderen Zeit zu einem fast unmöglichen Akt geworden. Kein geistiger Raum mehr dafür; Körper und Geist drehen sich ausschließlich um die sog. „Care“, die den Angelsachsen so sehr am Herzen liegt. Und glauben Sie mir, wenn dies im Vergleich zu der sich abzeichnenden wirtschaftlichen und sozialen Krise bedeutungslos erscheinen mag, so ist es das nicht. Unsere Vorstellungskraft wird uns genommen, und das ist nicht ohne Konsequenzen. Kurz gesagt, es ist mir unmöglich, über meine momentane Nicht-Lektüre zu berichten, also beschloss ich, über das Buch zu schreiben, welches mich am stärksten geprägt hat: Versuch einen Platz in Paris zu erfassen von Georges Pérec. Ein Autor, ja ja. Unmöglich, dachte ich mir. Und doch...

Pérec schreibt über "was passiert, wenn nichts passiert". Und dazu sitzt er in einer Bar am Place Saint-Sulpice in Paris und beobachtet alles, was er sieht: das Verstreichen der Zeit, vorbeifahrende Autos, Menschen und Wolken. Bemerkenswert ist die Form, die Pérec benutzt: die Liste. Dieses kleine Buch von etwa fünfzig Seiten drängt uns beim Lesen einen doppelten Lese-Rhythmus auf: eine poetische, durch seine Listen von Dingen, als wären sie dort ohne Anmaßung oder Stilfigur angeordnet ("Ein Kind mit einem Hund. Ein Mann mit einer Zeitung.") und eine echte Erzählfreude (ein wahres Wunder, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die dramaturgischen Einsätze nur auf der Anzahl der Runden basieren, die die Tauben jeden Tag auf dem Platz drehen). Mit anderen Worten: Lesende blättern die Seiten um wie in einem Krimi, während sie bei der Poesie in der Schwebe bleiben.

Dieses Buch war für mich von Anfang an eine Art Gebrauchsanweisung für Literatur: wie man die Leere annimmt, ihr ihren Platz gibt, wie man kleine Dinge bemerkenswert macht. Das ist es, was ich zwischen den Linien bei Munro, Ernaux, Debré, Berlin, Duras und sogar durch das Prisma der Gewalt bei Despentes finde. Eine gängige Ästhetik der im Alltag versunkenen Leere. Vielleicht ist dies das Markenzeichen einer sogenannten Frauenliteratur. Auf jeden Fall ist es diejenige, zu der ich in meinem Schreiben tendiere. Also für mich ist Pérec eine Autorin und Versuch einen Platz in Paris zu erfassen ist der Beweis dafür.

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2020

91