Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Hannes Ulbrich

Hannes Ulbrich arbeitet als Lektor für deutschsprachige Literatur im Piper Verlag.

Dag Solstad
Scham und Würde
(Roman); Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Dörlemann Verlag, Zürich 2007/2019.

Ziemlich sicher ist es ein Allgemeinplatz unter LeserInnen, aber: Am schönsten ist es ja gar nicht unbedingt immer, eine angenehme Lektüre zu haben. Manchmal ist natürlich auch das und gerade das besonders toll, doch zuletzt hat mich die Lektüre eines Autors derart nachhaltig beeindruckt, deren Schönheit für mich gar nicht auf den ersten Blick auszumachen war. Eines jedenfalls wurde mir relativ schnell deutlich – die Schönheit stand in keinerlei Zusammenhang mit dem „Angenehmen“.
Der Autor heißt Dag Solstad und kommt aus Norwegen, und der Roman, über den ich an dieser Stelle erzählen möchte, trägt den sofort evidenten, luziden und grenzgenialen Titel „Scham und Würde“.
Darin trifft den Lehrer Elias Rukla beim Unterrichten seiner Literaturklasse eine existenzielle Erkenntnis. Es ist eine Erkenntnis, die auch Dr. Relling betrifft, die Figur aus Ibsens „Wildente“ – das Drama, das Elias Rukla soeben mit einer Horde desinteressierter, pubertierender, also ganz und gar unreflektiert an der Existenz leidender Abschlussschüler durchkaut. Bei Relling respektive Ibsen macht diese Erkenntnis sich als Zittern in der Stimme bemerkbar, und Elias Rukla erkennt in diesem Zittern sich selbst. Es ist der „Moment der Nebenfigur“, und genau diesen Moment bringt Elias Ruklas in Ibsen gespiegeltes Ich Relling wiederum später selbst auf den Punkt: „Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge rauben, dann nehmen Sie ihm gleichzeitig sein Glück.“
Elias Rukla erfährt also schon früh in diesem schmalen Roman, in dem es ja nur und ausschließlich um ihn selbst geht, dass er eine Nebenfigur ist, eine Nebenfigur, die bis zu diesem Moment scheinbarer Beiläufigkeit davon ausgegangen ist, zumindest in ihrem eigenen Leben die Hauptrolle zu spielen.
Es ist ein erster Höhepunkt des Romans, an dem die titelgebende menschliche Zentralempfindung der Scham und der mit ihr zusammenhängende moralische Wert der Würde in ein Spannungsverhältnis treten, das sich wenig später im Pausenhof in einem phänomenalen Akt der Wut entlädt. Oft ist das Leben ja besonders dann spektakulär unterhaltsam und zugleich für Änderungen offen, wenn jemand mächtig wütend wird.
Elias Rukla schlägt also aus Verzweiflung darüber, dass sich nun, nach dieser entlarvenden Erkenntnis, auch noch sein Regenschirm nicht öffnen will, ebendiesen Schirm unter wüsten Beschimpfungen der umstehenden, glotzenden SchülerInnen auf dem Brunnen im Schulhof in Stücke und dampft regelrecht Richtung Innenstadt ab. Und ist die Wut ein alles eintrübender Zustand der Verunklarung, bietet der sich anschließende Zustand der Milde, Klarheit und Bereitschaft zum Eingeständnis Wege in die Reflexion. Elias Rukla führt diese Reflexion zurück in seine Zeit als Student, als er seinen damaligen besten Freund Johan Corneliussen kennenlernte, der ihn irgendwann wieder verließ, um in Amerika reich zu werden. Johann Corneliussen ließ Elias Rukla seine Frau Eva Linde und die gemeinsame Tochter zurück, damit dieser sich um die beiden kümmere, und so wird Elias Rukla in die Rolle seines Lebens gedrängt, die ihm seinen Platz vorgibt und ihm immer und überall souffliert, wo er wann was zu tun und zu sagen hat. Solange bis er dieser Rolle und ihrer Rollenhaftigkeit gewahr wird...
Dag Solstad beschreibt auf knapp 190 Seiten das Drama eines ganzen modernen Lebens. Er tut das auf eine so faszinierend betörende Art und Weise, dass ich immer wieder aufsah während der Lektüre und mich fragte: „Was ist das hier eigentlich für ein Buch?“ Es eine kreiselnde, mäandernde, springende Art des denkenden Erzählens. Und immer wenn ich dachte, ein Abschnitt hätte sich gerade nur mit Kleinig- oder Nichtigkeiten aufgehalten, belehrten mich die nächsten Seiten eines Besseren. Denn in diesem Buch geht es buchstäblich um alles: Es geht um das Leben, die Suche nach dem Glück und das Zugrundegehen daran, es geht um die Verheißungen des Kapitalismus und die Schwierigkeiten des sozialen Miteinanders, es geht um Einsamkeit und Liebe und um die Einsamkeit in der Liebe.
Und natürlich geht es um die Frage, ob man der (gesellschaftlichen) Rolle, in die man selbst hineingeraten ist, entkommen kann. Die Würde eines selbstbestimmten Lebens ist sicherlich größer als diejenige, die man durch eine glänzende Performance gewinnt. Doch die eigene Rolle abzuwerfen ist mit jeder Menge Scham und Gesichtsverlust verbunden. Unangenehm zu erfahren, aber unheimlich gut zu wissen. Und am Ende liegt die Schönheit dieses Buches wohl in der Wahrheit, die es so grandios eigenartig abbildet.

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2020

91